Gewehrläufe gegen Gewehrläufe

■ Gegenüber der Bevölkerung Pekings wurde gestern nur noch in die Luft geschossen...

Peking (wps) - Eine sonderbare Ruhe lag am Dienstag morgen über dem Ostteil Pekings, wo regierungstreue Panzer es geschafft hatten, einen Verteidigungsring zu schließen. Das Bemerkenswerte: die 22 Panzer der 27.Einheit hatten ihre Geschütze nicht mehr, wie noch am Wochenende, auf die Bevölkerung gerichtet, sondern zeigten stadtauswärts - so als ob sie einen Angriff von dort erwarteten. Noch bemerkenswerter: einige der Geschütze zeigten auf ein möglicherweise unzuverlässiges Bataillon, das an einer großen Straßenkreuzung, etwa drei Kilometer östlich des Tiananmen-Platzes postiert war. Dann umstellten Truppen der 27.Armee dieses Bataillon von etwa 400 Mann.

Nach verschiedenen Berichten bewegten sich in der Nacht auf Dienstag mehrere Truppeneinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen von Osten auf die Stadt zu, von denen westliche Diplomaten vermuten, daß sie der für das Massaker verantwortlichen 27.Armee gegenüber feindlich eingestellt sind. Andere berichten aber auch, daß neue Teile der 27.Armee vor den Toren der Stadt eingetroffen seien: aus den Provinzen Xinjiang im Nordwesten und Guangdong im Süden.

Ein in Hongkong ansässiger Militärattache vertrat die Ansicht, daß Chinas Luftwaffe sich an einem Versuch beteiligt hätte, der 27.Einheit die Kontrolle der Hauptstadt zu entreißen. Nach seinen Informationen landeten am Montag abend Infanterietruppen der Luftwaffe auf dem Militärflughafen Nunyuan südlich Pekings und wurden in Scharmützel mit anderen Militäreinheiten auf oder in der Nähe des Flughafens verwickelt. Als gesichert gilt auch aus anderen Quellen, daß in der Nähe etwa 30 Militärfahrzeuge in Flammen aufgingen.

Weitere kleinere Gefechte zwischen Truppeneinheiten brachen, so berichten Augenzeugen aus westlichen Ländern, gerade eineinhalb Kilometer westlich des Tiananmen-Platzes aus, der gegenwärtig von tausenden Soldaten der 27.Armee und hunderten ihrer Panzerfahrzeuge kontrolliert wird.

Verschiedene Beobachter meinen, die 38.Armee, die eigentich für den Raum Peking zuständig gewesen wäre und angeblich den Befehl zur Räumung des Platzes verweigerte, habe von ihren Kommandeuren den Befehl erhalten, die Stadt der 27.Armee wiederabzuzunehmen. Die 38.Armee soll enge Beziehungen zu dem reformfreudigen Generalsekretär der Partei, Zhao Ziyang, haben, der unter Hausarrest stehen soll.

Auch in der Stadt selbst gab es Anzeichen dafür, daß nicht alle Truppen bereit waren, an dem Massaker teilzunehmen. So wurden in den frühen Morgenstunden des Montag an der Westseite der Stadt etwa 100 gepanzerte Truppentransporter und Lastwagen von den Soldaten einfach stehengelassen und später von der Bevölkerung in Brand gesetzt. Umstehende berichten, die Besatzungen seien geflüchtet und hätten sich in einem nahegelegenen Museumskomplex versteckt, um nicht auf die unbewaffnete Menge schießen zu müssen.

Nur wenige Straßenblocks vom Tiananmen-Platz, dem symbolischen Herzen Chinas, entfernt schrien am Dienstag morgen die Bürger den Truppen, die noch einen Tag zuvor in die Menge geschossen hatten, ihre Verwünschungen ins Gesicht, bewarfen sie mit Steinen und errichteten Barrikaden. Die Soldaten hielten sich diesmal stärker zurück, schossen lediglich in die Luft, um sich ihren Weg zu bahnen.

Es war ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen beiden Seiten. Jedesmal, wenn Soldaten die Gegend verlassen hatten, kamen die Bewohner rennend zurück und bauten Barrikaden, um sich dann gleich wieder in die sicheren Seitenstraßen zurückzuziehen, sobald die Soldaten wieder auftauchten. Die meisten der Protestierenden schienen keine Waffen zu besitzen, aber es haben sich auch kleine bewaffnete Gruppen gebildet.

Jim Mann/Daniel Sutherland/mr