: Ganz Berlin ist eine Kirche
■ Zum 23.Evangelischen Kirchentag mit über 3.000 Veranstaltungen werden 148.000 Besucher erwartet
Berlin (taz) - Wenn heute abend um 17.50 Uhr in Berlin alle Glocken läuten, dürfte es auch dem ignorantesten Bewohner der Halbstadt klar sein: Der 23.Evangelische Kirchentag hat begonnen.
Ein Fest der Superlative wurde bereits im Vorfeld der bislang größte Kirchentag in seiner 40jährigen Geschichte genannt. Rund 148.000 DauerteilnehmerInnen werden die Stadt bevölkern. Rund 3.000 Veranstaltungen werden in dem über 400 Seiten starken Programmheft in Bibeldünndruck angeboten. Kein Thema, kein Problem, das von irgendeiner gesellschaftlichen Relevanz zeugt, wird darin ausgelassen. Frieden und Rüstung, staatliche Gewalt, Eugenik und Gentechnologie, Schuldenkrise und Flüchtlinge, Frauen, Dritte Welt und deutsche Vergangenheit, Kunst, Kultur und Feste, wer hier noch den Überblick behalten will, muß schon sehr sorgfältig planen.
Doch nicht nur im offiziellen Programm im Messegelände und im ICC werden sich die Massen drängen. Die Kirchenleitung schuf erstmals zusätzlich „Thematische Zentren“. Kirchengemeinden und freie Veranstaltungsorte bieten vertiefende Diskussionen und Workshops zu allen Themen des Hauptprogramms.
Der Kirchentag wird jedoch nicht nur von Frohsinn und christlichem Dialog begleitet. Protest und politische Kontroversen gehören ebenso zur Tradition wie deren Verdrängung seitens der Kirchenleitung. Bereits während des letzten Kirchentages 1987 in Frankfurt wurde heftig gegen die Einrichtung kirchlicher Spendenkonten bei der Deutschen Bank, die im Apartheid-Staat Südafrika engagiert ist, protestiert. Zwar wurde dieses Konto gekündigt. Doch unterhält der Kirchentag nach wie vor Konten bei Banken, die dem Rassistenregime verbunden sind.
Auch der Streit um die Teilnahme der rechtslastigen „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGfM) findet in Berlin seine Fortsetzung. Zwar dürfen sie nicht mehr wie in Frankfurt einen Stand auf dem „Markt der Möglichkeiten“ betreiben, dafür wurde IGfM-Chef Jörn Ziegler zu einer Podiumsdiskussion geladen. Um der Demokratie willen, wie Kirchentags-Präsident Helmut Simon listig anmerkte.
Dennoch ist die Anziehungskraft des Kirchentages ungebrochen. Vor allem junge Menschen zieht es zum Erstaunen kirchenferner Beobachter zum christlichen Festival. Etwa zwei Drittel der BesucherInnen sind nach offiziellen Angaben unter 30 Jahren.
Ob die jedoch hauptsächlich der christlichen Gesinnung wegen nach Berlin kommen, wird selbst in Kirchenkreisen schmunzelnd bezweifelt. Eine Reise nach Berlin hatte schließlich schon immer ihre ganz eigenen Reize.
Petra Dubilski
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