: Freiheit und Demokratie
■ Zum 75. Geburtstag einer Waller Schule: Ein utopisches Revue-Projekt
Zu einem gelungenen Fest gehört, daß auch ein Stückchen Utopie aufscheint: Entgrenzung, Auflösung, Glück. Die 75 -Jahrfeier der Schule Waller Ring am Dienstagabend, als Revue über „Schulgeschichte(n) aus dem Bremer Westen“ angekündigt, wurde zum rauschenden Geburtstagsfest mit etwa 35 DarstellerInnen auf der Bühne in einer rappelvollen Aula. In einer dreistündigen Multimediashow erlebte ein Publikum aus Eltern, Ex-Schülern und derzeit Beschulten einen ganz undidaktischen, federleichten und putzmunteren Geschichtsunterricht über 75 Jahre Bremer Westen, Schülerleben und Schule Waller Ring.
Was 1914 unterm Kaiser als „Realschule der westlichen Vorstadt“ beginnt, heißt ab 1938 „Horst-Wessels-Oberschule“, nachdem über 90% der Schüler in der HJ sind. Nach Kriegsende bedeutet „Oberschule Bremer Westen“ vorrangig Schulspeisung, 1974 heißt die Institution dann „Schulzentrum Walle“ mit der Sek. I am Waller Ring und der gymnasialen Oberstufe an der Langen Reihe.
Mit Kostümen, zeitgenössischer Musik und projizierten Zeitungsausrissen illustrieren die SchülerInnen der 9. bis 11. Klasse
die jeweilige politische und soziale Situation: Frau Grooterjahn und Frau Nedderwein plus Wauwauchen führen als running gag die gerade aktuelle Mode und Meinung vor, der Schulchor intoniert „Ich bete an die Macht der Liebe“ „Brüder zur Sonne“ und „How many roads“, Charlston-und Rock'n Roll-TänzerInnen fegen über die Bühne: die Aula tobt , und jede Möglichkeit zum Szenenapplaus wird wahrgenommen. Highlights der Show: Revuegirls schwingen die Beine zu „Veronika der Lenz ist da„; Durchhaltelieder wie „Davon geht die Welt nicht unter“, „Daß einem die Tränen kommen„; begnadete junge Männer, die „Geh'n Sie mit der Konjunktur“ vortragen. Superstars sind Jürgen Hollermann als Halbstarker außer Rand und Band und Christian Klein als klemmbeiniger Anstandslehrer der Wiederaufbauzeit.
Nebenbei erfährt man noch erstaunliche historische Details zur Problematik des „Lehrerinnen-Ehe-Verbots“ und also fehlenden „Qualitätskindern“ für den Ersten Weltkrieg; zu den Vorteilen, die den Waller Schülern aus dem Einmarsch der Division Gerstenberg in die Bremer Räterepublik erwachsen: schulfrei! 1945 war
Rattenbekämpfung Schulaufgabe, und in den späten Sechzigern gab es einen Schülerinnenstreik der Sportabiturientinnen, die es satt hatten, daß bei der Prüfung lauter „alte geile Böcke“ zusehen durften.
Die historische Genauigkeit verweist auf eine Riesenarbeit, die vor der Aufführung lag: unter der Aufsicht (?) der LehrerInnen Mechthild Thülich, Jürgen Thomas und Hanna Landscheid (Koregie: die SchülerInnen Marita Schmitd und Lars Ackermann) wurden in jeder freien Wochenend-und Ferienminute Archivmaterial und Mitteilungsbücher gesichtet, Texte geschrieben, Kostüme besorgt, Sprech-und Singunterricht genommen. Und wenn dann „Vorwärts und nicht vergessen“ erklingt, intonieren das Jugendliche, die was verstanden haben und uns verständlich machen.
Wenn es um Straßenbahndemos und Schülerinnenstreik und Hungerstreik auf den Domtreppen geht, stellt sich das kurze und beglückende Gefühl ein: Es gibt ein Wir hier und heute abend, Wir finden rebellisch und frech Worthülsen wie Freiheit und Demokratie einfach mal lebendig und spannend. Für so ein Fest hat sich der Aufwand gelohnt.
bs
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