piwik no script img

Platz ist in der kleinsten Hütte

■ Die Speisung der 5.000 ist gar nichts dagegen: Etwa 30mal mehr Menschen hat die Kirchentagsleitung mit ausgetüftelter Logistikmit Essen und Schlafplätzen versorgt

Frauke Langguth / Christine Berger

Noch nie kam es so dicke wie dieser Tage: Rund 148.000 TeilnehmerInnen des 23.Evangelischen Kirchentages, mehr als auf jedem Kirchentag zuvor, bevölkern derzeit West-Berlin. Den Ansturm der christlichen Massen in wohlgeordnetes Chaos zu überführen, war deshalb die zentrale Aufgabe des extra gegründeten Verkehrsausschusses, an dem neben Vertretern der Kirchentagsleitung auch Beamte der Berliner Polizei und der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) angehören. Bereits ein Jahr zuvor wurde mit der logistischen Planung des kirchlichen Großereignisses begonnen - schließlich sind über 148.000 BerlinbesucherInnen auf einen Schlag keine Kleinigkeit. Bereits bei der Anreise in einem der rund 1.500 Reisebusse oder in einem der 29 Reichsbahnsonderzüge werden es die Kirchentagsteilnehmer am eigenen Leib gespürt haben: die Insel West-Berlin ist nun mal nur durch enge nadelöhrgleiche Grenzkontrollstellen zu erreichen. Dem kann auch die beste Planung wenig entgegensetzen. Die Kirchentagsleitung hat jedoch extra Kontakt zu den DDR-Behörden aufgenommen und um schnellstmögliche Abfertigung gebeten.

Vor besondere logistische Probleme stellt der letzte Kirchentagstag die Polizei. Verteilte sich die gestrige Anreise noch über den ganzen Tag, so wird damit gerechnet, daß die Mehrzahl der KirchentagsteilnehmerInnen erst nach dem großen Schlußgottesdienst im Olympiastadion aufbrechen wird. Die Industrie- und Handelskammer sei verständigt worden, so ein Polizeisprecher, damit der gewerbliche Güterverkehr die Grenzstellen zu diesem Zeitpunkt möglichst schon passiert habe. „Schließlich müssen wir dafür sorgen, daß es am Montag in Berlin frische Milch gibt“, erklärt der Polizeisprecher. So um 18.30 Uhr könne man damit rechnen, daß in Berlin wieder normale Verhältnisse eingetreten seien.

Insgesamt zeigen die Verantwortlichen sich jedoch sehr zuversichtlich. „Es gibt kein Chaos, dafür kann ich mich verbürgen“, erklärt ein leitender Polizeibeamter. Und: „Wir haben schon ganz andere Dinge erlebt.“ Der BVG-Vertreter erinnert sich an das japanische Feuerwerk zur 750-Jahrfeier Berlins vor zwei Jahren, als 800.000 Menschen auf das Feld des Tempelhofer Flughafens strömten. Den Mehranteil an Fahrgästen werde man ohne Probleme verkraften, heißt es bei den Verkehrsbetrieben. Denn schließlich werden die Verkehrsbetriebe jedes Jahr bei Wintereinbruch genauso gefordert.

In der U-Bahn wird es jedoch aller Voraussicht nach trotz Sonderzügen, kürzerem Zeittakt und Extrawagons gelegentlich ziemlich eng werden. Wenn dann die Einheimischen mit mißbilligenden Blicken auf die „Touris“ und „Wessis“ schauen, hilft denen hoffentlich weiter, was die Kirchentagsleitung behauptet: „Kirchentagsbesucher sind anders. Sie sind hochmotiviert und bringen ein Höchstmaß an Geduld und Toleranz mit.“

Geduld beim Essenfassen und Toleranz bei der Unterbringung ist bei den Besuchern in der Tat vonnöten. Die Speisung der rund 145.000 KirchentagsbesucherInnen ist für die in diesen Tagen eingesetzten 650 Köche und KüchenhelferInnen harte Knochenarbeit. 50.000 Portionen Essen gilt es an jedem der vier Tage zuzubereiten. Ort des Essenfassens unter christlichem Stern: Das Oktoberfestgelände an der Jaffestraße. 54 Feldküchen sorgen dort in neun riesigen Zelten für den vegetarischen Schlag aus der Gulaschkanone. 15 Tonnen Tofuwurzeinlage, 10 Tonnen Trockengemüse und Kartoffeln werden verkocht. Umweltgerecht wird das Essen nicht in Wegwerfplastik serviert, sondern in kirchentagseigenen Porzellanschüsseln. Nur das Besteck muß selber mitgebracht werden.

Wer den termingefüllten Kirchentag nicht mit knurrendem Magen beginnen möchte, der muß sich zum Frühstück in eine der zahllosen Gemeindesäle begeben. Dort essen auch die rund 95.000 BesucherInnen, die ihr Lager in 366 Schulen aufgeschlagen haben, worüber sich besonders die Schulkinder der Stadt freuen. Sie haben während des gesamten Kirchentags schulfrei. Jene 15.000 Menschen, die von der Kirchentagsleitung in Privatquartieren untergebracht worden sind, können ebenfalls zur Stulle unter christlichem Dach greifen, wenn sie nicht schon von ihren Gasteltern versorgt werden. Das gleiche gilt auch für all jene, die sich ihren Unterschlupf selbstständig gesucht haben - 35.000 TeilnehmerInnen an der Zahl.

Gilt das Übernachten im Knast im allgemeinen als unschicklich, so setzt der Kirchentag hier neue Akzente. Eine 31köpfige Jugendgruppe aus Wuppertal begibt sich beipeilsweise in diesen Tagen zum Schlafen in die Turnhalle der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Und damit der Kontakt zwischen den dort einsitzenden Häftlingen und den BesucherInnen nicht auf die Ebene eines Zoobesuchs abdriftet, haben sieben Gefangene extra für den Kirchentag Freigang. Sie dürfen sich zusammen mit den Wuppertalern ins Veranstaltungsgedränge stürzen. Ebenfalls für Glaubensbrüder und -schwestern öffnen sich die Tore der früheren Frauenhaftanstalt in Moabit sowie ein leerstehender Gefängnistrakt in Zehlendorf. Dort erproben mehrere Jugendgruppen die Tristesse des Häftlingsdaseins. Selbst ein Saal der städtischen Feuerwehr wurde als Schlafstatt zweckentfremdet. Und der britische Stadtkommandant hat höchstselbst einen Krankenhaustrakt in Charlottenburg müden Christenmenschen zur Verfügung gestellt.

So sind denn doch noch alle Kirchentagsinteressierten unter Dach und Fach gekommen. Man habe mittlerweile sogar zuviel Quartiersangebote, ließ die Kirchentagsleitung verlauten. Was nicht heißen soll, daß anläßlich des geistlichen Happenings zuwenig Menschen in der Stadt sind. Spätestens angesichts der unzähligen Chemieklos, Imbißstände und überfüllten Kneipen allerorten werden die Ausmaße der christlichen Belagerung plastisch.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen