: Vom nahenden Ende der Schrift
■ Vilem Flusser: "Die Schrift"
Vilem Flusser schreibt, das sagt schon die Überschrift, über die Schrift. Die Entwicklung der Schrift, die in einer Kulturszene etwa 2000 v.Chr. im östlichen Mittelmeergebiet entstand, unterlag bis heute einer fortlaufenden Beschleunigung: Aus dem ursprünglich langsamen Meißeln und Ritzen (lat. scribere) mit dem Stilus ging das Pinseln, das Schreiben mit dem Federkiel, zuletzt der Kugelschreiber und die Schreibmaschine hervor.
Schreiben ist in-formieren (einprägen). Eine Information wird einem Material eingebildet, so wie Gott dem Lehm, der prima materia, seinen Odem eingeblasen und den Menschen (Adam) nach seinem Bilde (sic) erschaffen haben soll. „Am Anfang war das Wort“, die Information, „und das Wort war bei Gott“, heißt es. Heute sind vor allem wir es, die sprechen im informatischen Zeitalter. Der alte Herr scheint schon alles gesagt zu haben.
Die von Gott geoffenbarten, in Stein gehauenen Gebote sind mittlerweile humanisiert, durch von Menschen gemachte Gesetze ersetzt worden. Vor-schriften und Gebrauchsanweisungen substituieren zunehmend die Gesetze, und jetzt fangen wir an, mit Maschinen zu sprechen, machen ihnen Vorschriften, schreiben Programme, indem wir aufhören zu schreiben.
Das Schreiben ist eine ordnende Geste. Es ordnet mythische Gedankenkreise in zeilenförmige Bahnen. Die linearisierende, schreibende Tätigkeit transformierte die mythische, orale Vorgeschichte in Geschichte. Geschichte ist Funktion und Produkt des linearisierenden Denkens. Deshalb markiert das Aufkommen der Schrift den Anfang der Geschichte.
Der alphanumerische Code besteht aus Buchstaben und Zahlen. Zahlen sind Zeichen für Mengen, Buchstaben Zeichen für Laute. Ein alphabetischer Text ist eine Partitur für Lautwerte, nicht für Ideen. Jede Schrift ist ikonoklastisch. Der alphanumerische Code begradigte die Kreise mythischen Denkens in eine linear fortschreitende Rationalität.
Die typisierende Rationalität gelangte durch den Buchdruck zum Bewußtsein ihrer Selbst. Er entschied den Universalienstreit der Scholastik zunächst zu Gunsten der Realisten, die mittels des typisierenden ( druckenden!) Denkens zur Quintessenz vorzustoßen, das Dasein Gottes aus dem Akzidentellen zu ent-decken vorgaben. Erst heute scheint sich mit dem Schlachtruf Husserls „Zu den Sachen selbst!“ der analytischen Philosophie und einer nominalistischen, nachrelativistischen Physik der mittelalte Streit neu entscheiden zu wollen.
Das lineare, historische Denken der Schrift erwies sich als äußerst fruchtbar. Der alphabetische Code produzierte Menschheitsgeschichte, Heilige Schriften, Literatur, Philosophie und die Wissenschaften. Aber, das ist die These Flussers, der alphanumerische Code, auf dem die Werte der westlichen Zivilisation beruhen, arbeitet an seiner eigenen Überwindung.
Der Kosmos der Schrift gerät zunehmend in das Schwerefeld der von seiner Rationalität selbst hervorgebrachten elektromagnetischen Medien: Das künstliche Gedächtnis der Bücher und Bibliotheken wird durch elektronische Verfahren ersetzt. Die hermetische Post - Briefgeheimnis - verändert sich. Wir warten heute nicht mehr auf die schriftliche Botschaft, die mit einem Brief aus dem Bauch der Post zu uns kommt, sondern werden durch das Telefon aus der existenziellen Einstellung des Wartens gerissen.
Zeitungen sind im Relationsfeld elektromagnetischer Medien langsam und relativ dauerhafte Gedächtnisse. Man sollte sie heute Dauerungen nennen. Zudem enthalten sie zum Teil dauernwollende Texte.
Die Schrift gerät ins Schwerefeld der Medien: Drehbücher drehen sich im Strudel der Bilder. Umgekehrt geraten die Bilder des Realen, die wahrgenommene Welt, unter den ikonoklastischen Einfluß naturwissenschaftlichen Denkens, das eine letzte Autorität verkörpert. Die Materie erweist sich als bloßes Zwischenreich unserer Wahrnehmung, die wie unsere Körper an die molekulare Schicht gebunden ist. Im subatomaren Bereich der Quarks, Strings und Haptons schwindet aller Unterschied zwischen Symbol und Wirklichkeit. Das Ding und das Reale wird zur bloßen Erscheinung verdünnt, und neue Teilchen werden auf dem Bildschirm sichtbar. Sind auch wir solche Monitore, auf denen sich eine Schicht des Wirklichen abbildet, und die mit neuen Apparaten und Bildschirmen Bilder n-ter Ordnung ab -bilden?
Vielleicht hat der alphanumerische Code seine Aufgabe erfüllt und ist bereits über sein Ziel hinausgegangen: Eine existenzialisierte Relativitäts- und Quantentheorie bedarf eines neuen Superalphabets, in dem die Möglichkeit nach außen ins Unmögliche ausfranst und sich nach innen zum Bild verwirklicht.
Das epische, sich an einer er-zählerischen Ordnung orientierende historische Denken, das den roten Faden der Kausalität mittels des linearen alphabetischen Codes verfolgte, wird vielleicht eine ins Quanteln geratene Geschichte digitalen Apparaten überantworten, die eine automatische Geschichte aus dem Geschehen komputieren werden. Ein solches kulkulierendes ( mit Steinen spielendes) Bewußtstein wäre sicherlich kein historisches mehr. Denn digitale Rechner denken wie alle Mathematik unhistorisch: Es ist unsinnig zu sagen, 2+24 gestern um fünf Uhr nachmittags (Wittgenstein).
Flussers kulturkritische Befürchtung, mit dem alphabetischen Code werde nicht allein das Fortschrittsdenken, das Produkt des lesenden Bewußtseins ist, sondern das Wertesystem der westlichen Zivilisation als Ganzes, kritisches Denken, Freiheit und Menschenwürde, verloren, ist eine neue abendländische Untergangsphantasie. Phänomene wie sekundärer Analphabetismus scheinen sie zu bestätigen. Ein neuer Totalitarismus der Bilder ist unübersehbar. Komputierte Bilder und Klangsysteme prägen die Freizeitprogramme der Vergnügungsmaschinerien. Aber war der alphabetische Code weniger totalitär und ermöglichte nicht typisierendes Buchstabendenken genug Katastrophen von Schreibtischtätern?
Andererseits zeichnet sich eine Pluralität von Codes ab, in dem das lineare, er-zählerische Denken zum Teil in einen vieldimensionalen, zählenden Mythos zweiter Ordnung übergeht. Die Idee einer automatisch komputierten Geschichte öffnet nie zu Ende definierte, große Begriffe wie Freiheit in eine neue Unbestimmtheit, die an so etwas wie eine historische Unschärfetheorie denken läßt.
Es scheint so, als schlösse sich ein Kreis: Von der Vernunft hervorgebrachte Maschinen führen die Ratio an ihren Ab-grund. Die bilderlose Rationalität amplifiziert die aufsteigenden, halb unsinnigen Bilder einer zu einer endlosen Kette linearisierten, hyperrealen Automatengeschichte: Welcome to the machine! Welcome to the movie!
Ulrich Ebermann
Vilem Flusser, Die Schrift. Immatrix Publications Kassel 87, 138 Seiten, 34 DM. Die Schrift gibt es auch auf Diskette, 48 DM.
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