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Die verdrängte Erblast

Von Michael Schneider  ■ E S S A Y

Seit Michail Gorbatschow durch seine Reform- und Öffnungspolitik und seine spektakulären Vorleistungen auf dem Gebiet der Abrüstung dem Westen das Feindbild genommen hat, sind „Perestroika“ und „Glasnost“ in aller Munde. Und doch wird in der sonst so beredten Berichterstattung über das Perestroika-Land wie auch bei den öffentlichen Disputen über die deutsche Vergangenheit ein Thema mit auffälliger Konsequenz ausgespart: die Frage nämlich, was der deutsche Überfall 1941 und die deutsche Okkupation für die sowjetischen Völker bedeutet haben.

Auch die spektakuläre „Historiker-Debatte“ hat die Erblast von 1941, die das deutsch-sowjetische Verhältnis noch immer belastet, kaum thematisiert. Ja, allen Debatten, die in den letzten Jahren um die deutsche Vergangenheit geführt wurden, scheint eines gemeinsam: die nahezu ausschließliche Fixierung auf den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden. Über jenen anderen, zweiten Genozid jedoch, der im Zuge des „Unternehmens Barbarossa“ an Millionen sowjetischen Zivilisten, kommunistischen Funktionären und Kriegsgefangenen verübt worden ist, über die NS-Geopolitik des Hungers, die „verbrannten Dörfer“, die Blockade Leningrads, die fast jeden dritten Leningrader das Leben gekostet hat, wird in der BRD noch immer nicht gesprochen. Auch haben die Verbrechen, die in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion begangen worden sind, die politischen Amts und Würdenträger der Bundesrepublik noch nie zu vergleichbaren Bekundungen von Trauer und Scham bewegt, wie dies gegenüber den Überlebenden des Holocaust und dem Staat Israel inzwischen selbstverständlich ist.

Die meisten Bundesbürger, die älteren wie die jüngeren, gehen noch heute von der irrigen Vorstellung aus, die über 20 Millionen Toten des Weltkrieges auf sowjetischer Seite seien zu „Opfern normaler Kriegshandlungen“ geworden. Mindestens zehn Millionen Sowjetbürger aber sind zwischen 1941 und 1945 außerhalb der eigentlichen Kampf- und Kriegshandlungen zu Tode gekommen; darunter zwei Millionen sowjetischer Juden und 3,3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener. Nicht nur Auschwitz und Treblinka, auch die deutschen Lager für sowjetische Kriegsgefangene mit ihrer durchschnittlichen Sterbequote von fast 60 Prozent im ersten Kriegswinter 1941/42 lag sie sogar zwischen 70 und 80 Prozent - waren Todes- und Vernichtungslager. Mehrere hunderttausend zivile kommunistische Funktionäre sind im Zuge des „Kommissarbefehls“ und des „Kriegsgerichtsbarkeitserlasses“ liquidiert worden. Viele hunderttausend Sowjetbürger wurden als „Freischärler“, „Partisanenverdächtige“, „Saboteure“ und Geißeln erschossen oder im Zuge kollektiver Vergeltungsmaßnahmen wie dem Niederbrennen ganzer Dörfer und Ortschaften umgebracht. In vielen Fällen wurden die Dorfbewohner in Schulen, Scheunen und Kasernen getrieben und dort bei lebendigem Leibe verbrannt; auch dies war eine Art Auschwitz.

Dennoch wird in unserem Sprachgebrauch der Begriff des Genozids vornehmlich, wenn nicht ausschließlich, auf die Juden, allenfalls noch auf Sinti und Roma bezogen; eine folgenschwere begriffliche Verengung, die Resultat einer jahrzehntelangen, parteien- und generationsübergreifenden Verdrängung ist. Über die sowjetischen Opfer der deutschen Vernichtungsfeldzüge im Osten gibt es bei uns fast keine Literatur und keine Filme. An sie erinnern keine Gedenktage und keine Gedenkstätten; keine Ausstellungen und keine Museen - in diesem sonst so museumswütigen Land, das in Berlin und Bonn gerade Geschichtstempel von gigantischen Ausmaßen plant. Bis zum heutigen Tag ist die Erinnerungsarbeit über diesen Teil der deutschen Vergangenheit ausgeblieben.

Die Haltung der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit gegenüber der Sowjetunion war vielmehr jahrzehntelang von einem haßerfüllten Antisowjetismus und einer panischen Russenangst bestimmt. Diese gründet zwar auch auf reale Erfahrungen bei Kriegsende, vor allem auf die brutalen Vergeltungsakte von Rotarmisten bei der Eroberung Ostdeutschlands und auf die traumatische Erfahrung von Flucht und Vertreibung; dennoch war die sprichwörtliche deutsche Angst vor den Russen zu ihrem größeren Teil irrationaler, ja pathogener Natur. Sie entsprang einer kollektiven Projektion: Indem man den Russen gerade das unterstellte, was man ihnen selbst angetan hatte. Der virulente Antisowjetismus, den die Westdeutschen nahezu bruchlos von den Nazis und den amerikanischen Siegern übernommen hatten, stand vor allem im Dienste der eigenen Schuldabwehr und Schuldverleugnung. Der kalte Krieg hat über Jahrzehnte, im Grunde bis zum heutigen Tage, die Wahrnehmung jener ungeheuerlichen Zerstörungen verhindert, die die deutschen Heere auf sowjetischem Boden angerichtet haben: 15 sowjetische Großstädte, 1.710 Kleinstädte und 70.000 Dörfer waren ganz oder teilweise verwüstet, ein Drittel des bebaubaren Landes in Ödland verwandelt und fast die Hälfte des sowjetischen Industriepotentials vernichtet worden „was einer Zerstörung Amerikas östlich von Chicago gleichkäme“, wie Präsident John F.Kennedy in einer Rede (am 10.6.1963) gesagt hat.

Zu dieser kollektiven Verdrängung hat auch die deutsche Teilung wesentlich beigetragen. Mit ihr war nicht nur eine höchst unproportionale Verteilung der gesamten deutschen Kriegsschuld und der Wiedergutmachungszahlungen zugunsten der BRD, sondern zugleich auch eine Teilung des deutschen Schuldbewußtseins eingetreten. Während die DDR, stellvertretend für Gesamtdeutschland, die Kriegsschuld gegenüber der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten im materiellen wie moralischen Sinn übernehmen mußte, sah und sieht sich der bundesrepublikanische Staat in der alleinigen Schuld Israels. Daß er sich nicht verpflichtet fühlte, auch den sowjetischen Opfern der deutschen Vernichtungsfeldzüge, etwa den Millionen Ostarbeitern, eine Wiedergutmachung zu gewähren, schien gleichsam ex negative zu beweisen, daß man gegenüber der Sowjetunion auch keine Schuld auf sich geladen hatte - nach dem Motto: Wer nicht zahlt und nicht zahlen muß, der ist auch nichts schuldig geblieben.

Die Aufspaltung des deutschen Schuldbewußtseins war zugleich eine kollektive psychische Überlebensstrategie. Das Eingeständnis der Schuld an der Ermordung von sechs Millionen Juden war schon schwer genug gewesen; das Eingeständnis auch des anderen, an Russen und Slawen verübten Jahrhundertverbrechens, hätte die deutsche Kriegsgeneration wohl kaum mehr verkraftet. Unter der Last dieser geschichtlichen Doppelschuld hätte der kollektive Kraftakt in Form jener heroischen Wiederaufbauleistung, mit denen die Scham- und Schuldgefühle beiseite gedrängt und kompensiert wurden, wohl schwerlich gelingen können.

Es kann sich nicht darum handeln, die Deutschen mit ihrer unseligen Vergangenheit zu versöhnen, wie das neokonservative Lager und „seine“ Historiker wollen, sondern nur darum, die ehemaligen Kriegsgegner dauerhaft miteinander zu versöhnen. Voraussetzung dafür aber ist die schonungslose Offenlegung und das Wissen um die ganze Wahrheit der deutschen Vernichtungsfeldzüge im Osten. Denn eine Versöhnung, die auf Verdrängungen basiert, kann nicht gelingen, und ihr wäre auch nicht zu trauen, hat doch das Verdrängte, wie wir von Freud wissen, die verhängnisvolle Tendenz, in neuem, sei es im „republikanischen“, sei es im neofaschistischen Gewande wiederzukehren.

Es ist leicht, anderen „Glasnost“ zu predigen, solange man die toten Hunde nicht anrührt, die vor der eigenen Haustür begraben liegen.

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