Die bösen Ohrwürmer

■ Ein Gespräch mit Matt Johnson von „The The“ über Gott, die Welt, England im allgemeinen und Thatcherismus im besonderen

Claus Bredenbrock

„Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer - noch immer starrt in meinem Gedächtnisse der steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses - ich spreche von London.“ Heinrich Heine

„Es ist merkwürdig, wie gänzlich unbeachtet man leben und sterben kann in London. Wirklich gibt es Unzählige in der großen Hauptstadt, die keinerlei Sympathie auch nur in eines einzigen Brust erwecken, an deren Dasein niemand Interesse nimmt außer ihnen selbst; von denen sich nicht sagen läßt, sie würden vergessen nach ihrem Tode, weil bei ihrem Leben keine Seele an sie gedacht hat; die nicht einen einzigen Freund besitzen und um die sich niemand, schlechterdings niemand kümmert. Gebieterische Notwendigkeit zwang sie, nach London zu gehen, um Beschäftigung und die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt zu suchen.“ Charles Dickens

Früher stand für den Gruppennamen „The The“ ausschließlich Matt Johnson. Auf seinen Alben Burning Blue Soul, Soul Mining und Infected hat er ausschließlich mit Gastmusikern gearbeitet. Heute steht „The The“ für Matt Johnson, Johnny Marr (früher „Smiths“), David Palmer und James Eller, mit denen Matt Johnson erstmalig auch Konzerte in aller Welt geben wird. Eine beachtliche Karriere für einen Jungen aus dem Londoner East-End, der, gescheitert am britischen Schulsystem, bei sämtlichen Prüfungen durchfiel, mit 15 zu arbeiten begann und nur noch an eines dachte: die Musik.

Matt Johnson, der vor zehn Jahren mit seinem ersten Solo -Album Burning, Blue Soul ein überzeugendes Beispiel dafür geliefert hat, wie Angst und Verzweiflung, sind sie erst einmal herausgeschrien, sich positiv wenden können, somit auch Kraft zum Angriff, zur Gegenwehr vermitteln, hatte bereits mit Soul Mining ein paar Jahre später ersten kommerziellen Erfolg. Die LP gilt bis heute als eine der herausragenden Produktionen des Jahres 1983, überzeugte durch ihre intelligente und eigenwillige Spielweise zeitgenössischer Popmusik und verkauft sich bis heute. Das gilt auch für Infected, mit dem ihm dann 1986 der Durchbruch gelang.

Schon beinahe mit Besessenheit und beneidenswerter Zielstrebigkeit hatte er an Infected gearbeitet. Allein der für das Album zentrale Song Heartland hat in seiner Entstehung eineinhalb Jahre in Anspruch genommen. Zeit, die hier nicht für technische Spielereien und überflüssige Re -Mixes verwendet wurde, sondern die einen Song reifen ließ, der neben Marvin Gayes Inner City Blues, Randy Newmans Baltimore, Ghost Town von den Specials und The Message von Grandmaster Flash präzise wie kein zweiter den Zustand einer Nation in einer bestimmten Epoche dokumentiert. Johnson: „Ich wollte einen Song schreiben, an den man sich im Jahr 2000, vorausgesetzt es gibt uns dann noch, erinnert als eine ganz bestimmte Ära in der Geschichte Großbritanniens, auch wenn die Geschichte des Songs sich in Ost-London abspielt. Der Song ist sehr dicht und enthält eine Menge Anspielungen auf bestimmte Epochen der britischen Geschichte, z.B. der Ära Wilson und den amerikanischen Bürgerkrieg.“

Die Präzision, mit der Johnson in Heartland den Zerfall der britischen Innenstädte, ihre Pseudosanierung und den Gesamtzustand Großbritanniens in nur fünf Minuten skizziert, ist atemberaubend. „This is the 51st state of the USA!“ stellte er im Refrain zu Heartland fest und erläutert dazu: „Der Song ist nicht antiamerikanisch, eher ist er gegen die US-amerikanische Außenpolitik gerichtet. Er ist aber auch gedacht als Angriff auf den neuen Patriotismus in England seit Beginn des Falkland-Krieges, gegen dieses ganze 'Prinzessin-Diana-Fähnchenschwenken‘.“

Auch auf seinem neuen Album Mind Bomb verarbeitet er in The Beat(en) Generation die Erfahrungen der jungen Generation, die seit nunmehr zehn Jahren unter Thatcher und ihren Lakaien zu leiden hat. Doch anders als in Heartland ist dieser Song musikalisch so angelegt, daß er auch in Einkaufszentren oder Flughäfen als Hintergrundmusik zu hören sein könnte - nur vordergründig ein Widerspruch. „Genau das hatte ich vor. Ich habe so etwas schon einmal in dem Song Perfect gemacht, der auch, was den Text betrifft, eher trostlos wirkt, was die Musik angeht, jedoch mit Marimbas und Orgel arbeitet und sich insgesamt eher beschwingt anhört. Das Ganze hat mir auf eine perverse Art Spaß gemacht.

Es gibt ja dieses Phänomen, daß Menschen in Supermärkten oder auf Flughäfen Songs mitsummen, die sie eigentlich überhaupt nicht mitsummen möchten, und das habe ich auszunutzen versucht. Es gibt diese besondere Art 'ansteckender‘ Musik, und ich habe versucht, solche Musik mit sehr harten Texten zu verbinden. Die Vorstellung, daß Leute leicht beschwingt durch die Straßen laufen und The Beat(en) Generation vor sich hinsummen, fand ich ganz amüsant. Oft ist es ja auch so, daß, verbände man diese harten Texte auch noch mit sehr harter, depressiver Musik, der Song dann nicht mehr anzuhören wäre. Das Ganze würde dann leicht unerträglich. Und obwohl es nicht so scheint, ich bin eigentlich ein ganz optimistischer Mensch, und ich will, daß das auch in der Musik deutlich wird. Natürlich werden in The Beat(en) Generation ernste Themen behandelt, aber Jerry Dammers hat es damals mit dem Song Free Nelson Mandela geschafft, das Thema einer Menge Leute überhaupt bewußt zu machen, und hat dadurch eine Menge anderer Aktionen in Bewegung gebracht. Es steht dir einfach bei populärer Musik nur eine bestimmte Anzahl von Kanälen zur Verfügung. Niemand von uns mag die Fernsehsendung Top Of The Pops, aber man hat da ja keine große Auswahl.

Aber ich habe z.B. einmal während einer Nachrichtensendung aus einer der schwarzen Townships in Südafrika gesehen, wie Schwarze dort - ein, zwei Jahre, nachdem Jerry Dammers und Special AKA den Song aufgenommen hatten - ihn als Kampflied bei einer Demonstration gesungen haben, was zeigt, daß der Song die richtige Wirkung hatte. Man muß einfach dafür sorgen, daß das, was man zu sagen hat, auch im Radio oder Fernsehen gesendet wird. Vor Jahren war es noch üblich, in Pubs oder sonst irgendwo zu spielen, um das, was man zu sagen hatte, unter die Leute zu bringen. Das gibt es nur noch selten, an die Stelle solcher Auftritte sind jetzt Auftritte in Fernsehshows getreten. Das ist nicht unproblematisch, aber Jerry Dammers‘ Song wurde so zu einer Art Hymne der Anti-Apartheid-Bewegung weltweit.“

Das ist bei Matt Johnsons Song nicht zu erwarten, denn während es sogar den multinationalen Medienkonzernen nicht schwerfiel, das Geburstagsständchen für Nelson Mandela mitzuorganisieren, dürfte sich diese ehrenwerte Gesellschaft bei Songs wie The Beat(en) Generation eher bedeckt halten. Dort wird nämlich lapidar über die Generation der heutigen Teenager festgestellt:

„The beaten generation, the beaten generation reared on a diet of prejudice and misinformation„; und weiter: „We're being sedated by the gasoline fumes and hypnotised by the satelites into believing what is good and what is right.“

Eine geschlagene Generation, aufgezogen mit Vorurteilen und Fehlinformationen, betäubt durch Abgase und von Satelliten hypnotisiert zu glauben, was gut und was richtig ist.

Anders als noch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Infected vor drei Jahren zieht sich Matt Johnson jedoch auf seinem neuesten Album wieder stärker in die persönlich -psychologischen Fragestellungen zurück. Enthält Infected noch neben Heartland Songs zum westlichen Herrschaftssystem, das sich „von Mombasa bis Miami, von Beirut bis Bangladesch“ erstreckt (Twilight Of A Champion) oder zur US-amerikanischen Nahost-Politik (Sweet Bird Of Truth), so dominieren auf Mind Bomb Titel, die dem Privaten Vorrang vor dem Politischen einräumen. Schon die Häufung so unspezifischer Begriffe wie Glück, Schicksal, Gott, Geist, Ewigkeit, Wiedergeburt, Teufel, Religion(en) und zwangsläufig auch Himmel und Hölle deuten an, daß dem Popmusiker Johnson angesichts dessen, was er in einigen seiner besten Songs beschreibt, auch nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich einige grundsätzliche Fragen zum menschlichen Dasein zu stellen.

Johnson: „Der Gebrauch dieser Begriffe reflektiert die Veränderungen, die ich selbst durchgemacht habe. Seit Infected habe ich mich ziemlich drastisch verändert, vor allem, was meine persönliche Philosophie betrifft. Ich begann mich immer mehr für die Dinge zu interessieren, die jenseits der unmittelbar gemachten Erfahrungen existieren. Dinge, die man nicht anfassen, riechen, hören oder sehen kann, von denen man aber weiß, daß sie existieren. Viele dieser Begriffe sind sehr gefühlsbetont, einige rufen eher positive, andere eher negative Reaktionen hervor. Alle diese Begriffe sind ja auch sehr alt, aber es gibt keine anderen Wörter. Deshalb kann ich das, was ich sagen will, nicht ausschließlich mit den Mitteln des Textes machen - dann müßte ich Kurzgeschichten oder Bücher schreiben. Ich glaube, die Leute unterschätzen oft die Bedeutung der Musik im Verhältnis zum Text. Oft wirkt der Text ohne die Musik kalt und scheint etwas anderes zu bedeuten, als wenn die Musik hinzugefügt wird. Es kommt also auf die 'Feineinstellung‘ an.“

Der Musiker Johnson, so viel war auch schon auf den ersten drei Alben zu hören, ist sich nicht nur der kompositorischen Qualität seiner Stücke bewußt. Die Auswahl der zur Unterstützung herangezogenen Gastmusikerinnen und -musiker beweist auch eine intime Kenntnis des britischen Popgeschehens und das ständige Bestreben nach Perfektion. So ertönt genau zum richtigen Zeitpunkt ein Piano-Solo von Jools Holland („Squeeze“), dezenter Hintergrundgesang von Anna Domino, oder aber er übergibt das Mikrofon an Neneh Cherry oder zuletzt an Sinead O'Connor um im Wechselgesang einer Beziehungskrise zum Ausdruck zu verhelfen.

Und dennoch: Trotz intensiver Beschäftigung mit Mystizismen aller Art beschäftigt Matt Johnson doch immer noch auch die Veränderung des Alltagslebens im Vereinigten Königreich während der letzen zehn Jahre. Matt Johnson über Thatcher: „Ich glaube, die tatsächlichen Auswirkungen des Thatcherismus werden wir erst in einigen Jahren beurteilen können. Es haben sich zwar auch beim letzten Mal mehr Menschen gegen Thatcher entschieden als für sie, aber ihr erneuter Wahlsieg war sicher ein gewaltiger Schock für einen großen Teil der Bevölkerung, und die Menschen haben sich auch verändert, die Atmosphäre hat sich insgesamt verändert. Es gibt einfach viel mehr Aggression innerhalb der Bevölkerung, und die Gier nach Geld wird offener gezeigt. Die Briten waren ja immer bekannt dafür, Gefühle nicht so zu zeigen, sich eher reserviert zurückzuhalten. Es scheint so, als habe man nun endlich einen Grund gefunden, diese Aggressionen auch herauszulassen. Ganz sicher gibt es heute mehr Gewalt in den Vorstädten, mehr Betrunkene und Randalierer. Die Atmosphäre ist größtenteils unangenehm geworden.“

Diskographie: Matt Johnson,

„Burning Blue Soul“, 4 AD, 1979.

The The, „Soul Mining“, CBS 1983.

The The, „Infected“, CBS 1986.

The The, „Mind Bomb“, CBS 1989.