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EKSTASE FÜR DIE BLONDEN

■ Nass El-Ghiwane und Jil Jilala in der Kongreßhalle

„Sie werden heute abend eine Sensation erleben, so als würden die Beatles und die Rolling Stones zusammen auf der Bühne stehen. Erleben Sie den gemeinsamen Auftritt der Stars aus Marrakesch, Jil Jilala, und der Stars aus Casablanca, Nass El-Ghiwane.“

Neun junge Marokkaner beginnen zu trommeln, spielen auf traditionellen Saiteninstrumenten und singen. Sie machen eine Ansage, ihre Fans jubeln, klatschen, rufen ihnen etwas zu, vor der Bühne wird, die Arme hochgestreckt, getanzt.

Der Orient-Express des Horizonte Festivals ist soeben im Bahnhof Kongreßhalle eingelaufen. Über einhundert arabische Anhänger begrüßen die Weitgereisten stürmisch. Die „Blonden“ (so nennt ein Musiker die Europäer) sitzen auf den Bänken dazwischen, verstehen nicht so recht, was hier passiert und welch scheinbar geheime Botschaften man sich auf arabisch zuruft. Soll man im Rhythmus mitklatschen, soll man tanzen; lieber erst mal abwarten.

Die Musik von Nass El-Ghiwane und Jil Jilala basiert auf traditionellen, oft religiösen marokkanischen Volksweisen. Die Texte stammen vorwiegend aus überlieferten Gedichten, die modern interpretiert werden. Sie sind schwierig zu übersetzen, erklärt mir ein Marokkaner, weil sie von einer reichen Bildsprache leben, deren Metaphorik sich einem „Blonden“ nur beschränkt erschließt. Zwar griffen die Texte häufig soziale Probleme auf, böten aber keine Veränderungsanleitungen. Mein marokkanischer Übersetzer bemängelt ihre mangelnde Radikalität, sie seien im Endeffekt unpolitisch und religiös vernebelnd.

Trotzdem scheint von den „roten Tönen“ (ein Musiker) eine Art magischer Ausstrahlung auszugehen. In einem Film des spanischen Fernsehens über die Musik von Nass El-Ghiwane wird gar von Trance gesprochen, in die die Zuhörer versetzt werden. Im Film sieht man die Gruppe das Ritual des „wadschd“, der Ekstase, vollziehen. Mit Trommel und „Guembris“, einem alten Saiteninstrument, ziehen die Ghiwan (Brüder) weihräuchernd durch den Innenhof eines „geweihten“ Hauses. Einer von ihnen schlachtet eine Opferziege.

Bei Konzerten in Marokko scheint das Publikum tatsächlich in rituelle Verzückung zu geraten, in der doch eher nüchternen Atmosphäre des Kongreß-Bunkers ist kein vom Propheten Besessener, kein „Mamlukin“ auszumachen. Um so fanatischer sind die adrett gekleideten Herren der Festspielegesellschaft um die Einhaltung des Rauchverbots bemüht. Die „Ordner“ widmen ihr Sensorium an diesem Abend ganz und gar ihrer Aufgabe als Rauchmelder. Das wirkt sich naturgemäß nicht sehr trancefördernd.

Nass El-Ghiwane und die „ziellos umherschweifenden Bohemiens“ kennen sich bereits seit 1971, als sie unter dem Namen „New Dervich“ erstmals in der Stadt Sale auftraten. Sie verstehen sich als Kämpfer für eine originär arabische Musik, die nicht den Fehler begeht, angloamerikanische Vorbilder nachzuahmen, sondern auf der Basis von Folklore und religiöser Tradition eine zeitgerechte Volksmusik kreiert. Mit dem hierzulande in letzter Zeit inflationär kolportierten Begriff der Weltmusik oder, noch schlimmer, des „Ethno-Pops“, haben die Ghiwane wenig im Sinn. Geht es beim Ethno-Pop doch meist eher darum, fremde Musikkulturen der westlich-industriellen Musikproduktion einzuverleiben und sich mit diesen wie mit bunten Federn zu schmücken. Doch vor diesem „Dschinn“ (Dämon) dürften Nass El-Ghiwane und Jil Jilala gefeit sein, auch wenn ihre gemeinsame Präsentation auf einen marokkanischen Zuhörer wirkte wie die Verschmelzung der Dubliners mit Heino.

Andreas Becker

Der Film von Juan Goytisolo über Nass El-Ghiwane läuft am 21.6. um 22.30 Uhr im Literaturprogramm der Horizonte. Nächstes Konzert im Orient-Express: Samstag, 17.6., mit Rabih Abou-Khalil, 22 Uhr, Kongreßhalle.

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