piwik no script img

DDR im Zustand der Stagnation

Erklärung aus der in der DDR herausgegebenen Informationsschrift „Grenzfall“ zur öffentlichen Aufarbeitung des Stalinismus  ■ D O K U M E N T A T I O N

„Vor fünfzig Jahren, d.h. von 1936 bis 1938, fand in der Sowjetunion eine Serie von Schauprozessen statt, in der ehemalige Kämpfer gegen den Zarismus und führende Bolschewiki als Landesverräter und Konterrevolutionäre verurteilt worden sind. Sämtliche Angeklagten wurden erschossen oder starben kurz darauf in Lagern für politische Gefangene. Sie waren nur ein Bruchteil der Opfer, die unter dem Terror Stalins und seiner Helfershelfer litten und starben. In der Sowjetunion sind Stalins Verbrechen und die Auswirkungen seiner Politik auf die ihm folgende Zeit mittlerweile kein Tabuthema mehr. Die Schauprozesse wurden wieder aufgerollt, und die Mehrzahl ihrer Opfer, u.a. Bucharin, Sinowjew, Kamenjew, Radek, wurden rehabilitiert. Die Archive wurden geöffnet und Dokumente, die die Verbrechen zu dieser Zeit belegen, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In den Massenmedien wurden jahrezehntelang existierende Lügen zerstört und Wahrheit über Opfer und Täter, über Methode und System des Stalinismus benannt. Ein Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors ist geplant.

Und was geschieht in der DDR? Auch für unser Land hat die Politik Stalins Auswirkungen gehabt, wurden doch die Mitglieder der SED in seinem Sinne orientiert und geschult (Der kurze Lehrgang der Geschichte der KPdSU, ein Buch, das die stalinistischen Verbrechen verherrlicht, war Pflichtlektüre für jeden Genossen.), waren die meisten Führungskräfte von Partei und Staat, wie z.B. Walter Ulbricht, unkritische und treue Vertreter stalinistischer Politik. Die Thematisierung und Aufarbeitung dieser Problematik hat es offiziell in der DDR bisher noch nicht gegeben, obwohl die Auswirkungen bis heute nicht überwunden sind. Deshalb erwarten wir für die nächste Zeit:

a) Die jüngst in der Sowjetunion erschienenen Veröffentlichungen zu den geschichtlichen Tatsachen und Hintergründen der Politik Stalins werden auch der DDR -Bevölkerung zugänglich gemacht. In den Massenmedien werden die Verbrechen und der Terror Stalins und seiner Komplizen thematisiert. Auch in bezug auf den Schulunterricht und das Hoch- und Fachschulstudium werden diesbezügliche Änderungen erfolgen. Die erfolgten Rehabilitierungen werden in der DDR -Presse bekanntgegeben und erläutert. Der sowjetische Film Die Reue wird auch in unseren Kinos ausgestrahlt. Die Bevölkerung wird über das Schicksal von deutschen Antifaschisten aufgeklärt, die im sowjetischen Exil Leid erfahren haben. wie z.B. H.Vogeler, W.Hirsch, W.Koska.

b) Eine offene und öffentliche Aufarbeitung der Auswirkungen stalinistischer Politik auf die DDR muß erfolgen. Dazu bedarf es der Benennung der Tatsachen und Verbrechen aus der Regierungszeit Walter Ulbrichts ebenso wie der Möglichkeit einer ungehinderten gesellschaftlichen Diskussion. In der DDR gab es Geheimprozesse, wie gegen Lex Ende, Kreikemeyer u.a. Diese Personen müssen rehabilitiert werden, die Öffentlichkeit über die damaligen Vorgänge informiert und aufgeklärt werden. Ebenso sollten Personen rehabilitiert werden, die kritisch der stalinistischen Politik entgegentraten und von einem ideologischen Bannspruch getroffen wurden, wie Wolfgang Leonhard, Ernst Bloch, Robert Havemann u.a. Dies schließt eine Veröffentlichung ihrer Werke in der DDR ein.

Die Aufarbeitung des Stalinismus und seiner Auswirkungen auf die DDR ist bitter notwendig, nicht nur aus Gründen geschichtlicher Redlichkeit und aus Achtung der Würde ihrer Opfer. Die Verdrängung dieser Wirklichkeit hat negative Folgen für die Chancen demokratischer Entwicklungen in unserem Land. Noch befindet sich die DDR in dem Zustand, der heute in der UdSSR als Stagnation bezeichnet wird. Außerdem: Wer seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Die Erklärung hat 57 Unterzeichner.

Öffentliche Erklärung

Wir begrüßen eine soeben von DDR-Bürgerrechtsgruppen veröffentlichte Erklärung, die dazu auffordert, endlich „die Verbrechen und den Terror Stalins und seiner Komplizen“ zun benennen, und in einer „offenen und öffentlichen Diskussion“ die Auswirkungen dieser Politik auf die DDR zu analysieren. Wir stimmen auch zu, daß Personen, die der stalinistischen Politik kritisch entgegengetreten und deshalb von einem „ideologischen Bannspruch“ getroffen worden sind, rehabilitiert werden müßten. Als Beispiele werden in der Schrift der Bürgerrechtsgruppen genannt: Ernst Bloch, Wolfgang Leonhard und Robert Havemann.

Gleichzeitzig bezeugen wir unsere Empörung über Äußerungen von Margot Honecker auf dem Pädagogenkongreß in Ost-Berlin, mit denen die Frau des Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, die Jugend wie zu Lebzeiten Stalins aufrief, „Feinde“, „Verräter“ und „Konterrevolutionäre“ zu suchen und sie bei der Verteidigung des Sozialismus, wenn nötig, „mit der Waffe in der Hand“ zu besiegen.

Wir finden dieses Wort ungeheuerlich! Es fällt in eine Zeit, da derFriede mehr geworden ist, da ein demokratischer, freiheitlicher, human orientierter Sozialismus dabei ist, seine depremierende Karikatur in Gestalt des stalinistischen und nach-stalinistischen Terrors zu überwinden, nach denen die politische und militärische Blockkonfrontation in praktische und dauerhafte Entspannung verwandelt werden kann.

Natürlich richtet sich Margot Honeckers Aufforderung zu Denunziation und Gewaltanwendung auch gegen die polnische Solidarnosc, die Prager Charta 77, die Demokratisierung in Ungarn und in der Sowjetunion. Vor allem aber richtet sie sich nach innen, gegen die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR, also das eigene Volk. Das Wort Margot Honeckers kehrt sich jedoch ebenfalls gegen Schriftsteller wie wir, die sich, einst selber in den Stalinismus verstrickt, von ihm abgewandt und sich dieser Sprache der Verteufelung und der Gewalt entgegengestellt haben.

Vor dem Hintergrund unserer eigenen Lebenserfahrungen erklären wir deshalb: Die Zeit des Kalten Krieges und der aggressiven Ein- und Ausgrenzung des Einzelnen muß jetzt zu Ende sein, auch in der DDR. Auf der Tagesordnung steht: sich ehrlich aufzuführen, kontrovers zu diskutieren, diejenigen namentlich aufzuführen, die für die Zeit des Terrros und der Stagnation verantwortlich waren, und Schritte einzuleiten, die zu einer pluralistischen, gewaltfreien Gesellschaft führen - in Ost und West.

Angesichts der Feuerwalze, mit der auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking der harte, in Panik geratene, gesprächsunfähige Teil der KP Chinas die studentische Demokratiebewegung niedergewalzt hat, fordern wir: dialogisieren - jetzt; den Stalinismus aufarbeiten - jetzt; eine Kultur des politischen Streits finden und erproben, mit allen in der DDR und in der Bundesrepublik, die dazu bereit sind.

Wir sind es.

Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Wolfgang Leonhard, Erich Loest, Gerhard Zwerenz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen