Armen melden sich zu Wort und bekommen Labskaus

■ Im Bremer Rathaus verhandeln die Arbeits-und Sozialminister über eine neue Berechnung von Sozialhilfe / Proteste von Betroffenen vor der Tür

„Was die Herren und Damen Sozialminister da oben an Knabbereien verzehren, reicht einem Sozialhilfeempfänger im ganzen Monat,“ verkündete Lothar Stock, als er gestern von seinem Auftritt vor der Arbeits-und Sozialministerkonferenz der Länder berichtete. Stock war als Sprecher der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen nach Bremen gekommen.

Nach lautstarken Protesten der von weither angereisten Sozialhilfegruppen vor der Tür hatten sich die tagenden Minister im Bremer Rathaus entschlossen, zwei ihrer KollegInnen zum Dialog unters Volk zu schicken: Ortwin Runde, Sozialminister Hamburgs, und Barbara Schäfer, Amtskollegin aus Baden-Württemberg. Sie stellten sich den Fragen, bevor in zähem Ringen der Entschluß gefaßt wurde, einen Sprecher der DemonstrantInnen zur Konferenz einzuladen.

Sehr viel ließen sich die Minister nicht entlocken: Beschlüsse, die sie u.a. zur Sozialhilfe und deren neuer Bemessungsgrundlage, vorhaben, wurden gestern noch nicht gefaßt. Bisher richtet sich das Einkommen der Sozialhilfeempfänger nach einem Warenkorb, der Waren und Dienstleistungen auflistet, die ein Mensch (wissenschaftlichen Brechnungen zufolge) zum Überleben braucht. Der Warenkorb enthält zum Beispiel 837 Gramm Brot oder Brötchen pro Woche, 23 Gramm Kaffee, 29 Gramm Reis und drei Eier.

Pro Monat werden einem Sozialhilfeempfänger ein Paar Socken, 25 ml Haarschampoo, und zur Teilnahme am sogenannten „gesellschaftlichen Leben“ vier Briefmarken a 80 Pfennig, 12 Straßenbahnfahrten, 36 Bahn-Kilometer, eine Kinokarte und drei Flaschen Bier zur Bewirtung von Gästen zugestanden.

Der Warenkorb bestimmte, gemessen an den Preisen in den einzelnen Bundesländern, die Regelsätze, nach denen die Armen ihr Geld beziehen. Und damit dies noch „Anreiz zum Arbeiten“ bietet, hält ein entsprechendes „Abstandgebot“ die Sozialhilfe per Gesetz in gebührendem Abstand noch unter dem Einkommen sogenannter „unterer Einkommensgruppen“ dieser Republik. Macht alles in allem bislang 416,-Mark im Monat.

Die bisherigen Erhöhungen des Regelsatzes um jeweils wenige Prozent blieben weit hinter den Preissteigerungen und verändertem Verbrauchsverhalten zurück. Wenn in Bremen zum Beispiel die Finanzdeputation letzte Woche eine Erhöhung zum 1. Juli von 3 % beschlossen hat, dann sind dies ganze 12 DM mehr, nämlich künftig 428 Mark.

Das reicht längst nicht aus, um „ein menschenwürdiges Leben zu führen,“ wie es das Bundessozialhilfegesetz vorschreibt. Wohlfahrtsverbände fordern seit Jahren eine Erhöhung um mindestens 12 %, die Caritas will 5, Gewerkschaften gar 30 Prozent Erhöhung.

Die Sozialhilfeinitiativen haben unterdessen einen alternativen Warenkorb entwickelt, „der dem tatsächlichen Bedarf der Hilfeberechtigten gerecht wird“: 775 Mark plus 125 Mark Kleidergeld für jeden Erwachsenen sind ihre Forderung. Dies präsentier

ten sie gestern in einer Protestveranstaltung den Ministern vor und im Bremer Rathaus, in dem währenddessen ein ganz anderes Bemessungssystem beraten und vermutlich auch verabschiedet wird: Ein Statistikmodell soll künftig das Einkommen von Sozialhil

feempfängern bestimmen. Zugrunde liegen statistisch ermittelte „Einkommens-und Verbrauchsgewohnheiten unterer Einkommenschichten.“ Die Minister versprechen damit eine rund 10prozentige Einkommensverbesserung. Kritiker, auch die

Betroffenen selbst, befürchten dadurch jedoch eine „Abkopplung“ der Sozialhilfe von der Entwicklung der Durchschnittseinkommen. Sie weisen auch darauf hin, daß die unteren Einkommenschichten ja sowieso nur finanziell begrenzt am Verbrauchermarkt teilhaben.

Die barschen Vorwürfe der Demonstranten, sie noch mehr ins gesellschaftliche Abseits zu drängen, wies Hamburgs Sozialminister Runde mit dem Hinweis ab, daß auch er „18 Jahre lang mit Sozialhilfe“ habe leben müssen - als Flüchtling aus Ostpreußen. Senator Scherfs Ministerialdirektor Hoppensack lud die verbliebenen 25 DemonstrantInnen großherzig in den Ratskeller zum Essen ein (zu einem 10 Marks-Gericht). Nicht ohne auf die konkret vorgetragenen Probleme mit der Gewährungspraxis in den Ämtern unter Hinweis auf den zuständigen Amtschef reagiert zu haben.

Im ehrwürdigen Ratskeller flüchteten übrigens einige der Gäste, als das bunte Völkchen der Armen zum Labskaus-Essen Platz nahm - außerhalb des Blickfelds der übrigen Gäste, versteht sich: Die anderen Plätze waren „reserviert“.

ra