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„Es ist wie im Krieg“

■ Marceline Loridan und Joris Ivens geben Auskunft über den Wind

Auf die Frage, wie es ihm denn gelungen sei, Produzenten für „Eine Geschichte über den Wind“ zu bekommen, erzählt Ivens:

Ein Film über den Wind: Wenn man ihnen das sagte, verließen sie sofort den Raum und ließen einen stehen.

Marceline Loridan: Sie sagten: Wie kann man denn einen Film über den Wind machen? Man kann ihn doch gar nicht sehen.

Joris Ivens: Daraufhin fragte ich sie: Mögen Sie Western? Und sie antworteten mir: Ja. Dann sagte ich: Haben Sie da schon mal gesehen, wie die Kugel aus dem Revolver geschossen kommt? (...)

Ich habe versucht, zusammen mit Marceline, eine Reise durch das 20. Jahrhundert zu machen, meine ganze Lebensgeschichte.

Loridan: Das Flugzeug, die Kommunikation, die Reise.

Ivens: Als Kind habe ich tatsächlich mal ein Flugzeug gebaut. Bei der Szene gingen wir von einem Foto aus.

Cahiers: Eigentlich denkt man, für einen Holländer ginge jede Reise zunächst einmal über das Meer.

Ivens: Für mich war es das Flugzeug. Wir hatten noch nie ein Flugzeug gesehen in Holland, eines Tages kam eins, aus Belgien. Es flog 200 Meter weit, und die Leute klatschten Beifall. Wir wußten bereits, daß man mit einem Ballon fliegen kann, aber nicht mit einer Maschine, die schwerer ist als die Luft. Vor kurzem bin ich mit Marceline von New York aus in einer Concorde nach Paris zurückgeflogen. Wir brauchten höchstens drei Stunden und 20 Minuten. Ich habe alle Erfindungen dieses Jahrhunderts miterlebt. Als ich 1937 Spanische Erde gedreht habe und ein Jahr später 400 Millionen in China, gab es kein Fernsehen. Es war der Dokumentarfilm, der informierte, der die Nachrichten weitergab. (...) Heute sind beim kleinsten Ereignis die TV -Anstalen von 50 Ländern sofort auf dem Laufenden. Das ist erstaunlich, nicht? Für die Jüngeren ist es oft nicht leicht zu begreifen, warum diese Filme Klassiker wurden, das Gedächtnis des Kinos.

Loridan: Die ersten Filme, die Joris gesehen hat, gab es auf dem Rummel, den Märkten. Dort sah er die Filme von Melies, Die Reise zum Mond. Wir befanden uns gewissermaßen zwischen Lumiere und Melies, zwischen dem dokumentarischen und dem phantastischen Kino, und sagten uns oft: Man muß ein Niemandsland finden und sich da engagieren, nicht wiederholen, was es schon gibt, sondern neu erfinden.

(...)

Ivens: Eine Geschichte über den Wind ist keine klassische Koproduktion, wir sind, zusammen mit La Sept (Paris), unsere eigenen Produzenten. Es war unmöglich, diesen Film mit einem ganz normalen Produzenten zu drehen, alleine deshalb, weil ich zweimal schwer krank geworden bin. Ich kam in Peking ins Krankenhaus, man hat mich dann nach Paris zurückgebracht. Bei der Szene, in der man mich auf den Berg hochträgt, habe ich mir eine kleine Erkältung zugezogen, und mit meinen Lungen ist eine kleine Erkältung sehr gefährlich. Die Chinesen haben versucht, mich zu behandeln, aber es fehlte ihnen an Geräten und Medizin.

Loridan: Die Filmcrew blieb in Peking, und mit Hilfe von Mondial Assistance schafften wir Joris nach Paris zurück. Normalerweise transportiert Mondial Assistance nur Unfälle und keine chronisch Kranken, aber sie haben es gemacht, weil es nun mal Joris Ivens war. Als wir 18 Stunden später ankamen, war er in einem kritischen Zustand. Der Arzt bat mich, eine Stunde später wiederzukommen, und da lag Joris, sie hatten ihm überall Kanülen angelegt.

Ivens: Ich erinnere mich an nichts.

Waren Sie lange krank?

Ivens: Ich konnte nicht zu den Dreharbeiten zurückkehren, Marceline hat den Film fertiggedreht, zusammen mit der französisch-chinesischen Equipe.

Mußte denn noch viel gefilmt werden?

Loridan: Ja. Die Idee mit dem Krankenhaus kam uns natürlich, als Joris krank wurde, aber da er nicht da war, wurde aus den zwei oder drei ursprünglich vorgesehenen Sequenzen eine kurze Szene. Ich habe ihm nicht gesagt, daß wir sie drehen, weil ich ihn nicht kränken wollte, ich habe meine Skrupel überwunden und glaube, daß das Ergebnis gut geworden ist. Ein konkretes Beispiel dafür, wie die Realität ins Imaginäre umkippt, ins Fantastische.

Ivens: Und der Beweis dafür, daß es eine Katastrophe gewesen wäre, wenn wir bei diesem Film mit einem klassischen Szenario gearbeitet hätten. Der Wind ist eifersüchtig, er provoziert einen, macht alles zittern, er trägt wirklich menschliche Züge. (...)

Warum eigentlich dieser Ehrgeiz, den Wind zu filmen?

Ivens: 1965 habe ich einen Film über den Mistral gedreht, dabei habe ich viel gelernt. Man kann auf den Wind nicht mit dem ganzen Filmteam warten. Ein Teil des Teams hat die visuellen Effekt gefilmt, die verschiedenen Winde in unterschiedlicher Umgebung. Aber es war dann sehr schwer, alles unter einen Hut zu kriegen. Das Problem ist das Warten. Es ist wie Krieg, man ist hier und alles passiert anderswo, man rennt ihm hinterher. In Wahrheit ist der Wind der Regisseur. (...)

Der Wind ist überall, bei Buster Keaton, in den Western, hier oder da gibt es immer mal wieder fünf Minuten Wind , aber er ist nur Dekor. Das liegt daran, daß es sehr schwierig ist mit ihm, auch für einen Dokumentaristen. Der Wind ist sehr kapriziös, noch mehr als eine Frau, eine richtige Diva, die Wind-Diva (lacht). Der Wind bringt die Farben mit sich, er ändert die Farben, er ändert den Geist etc. Ständig bewegt er sich, und wir haben kaum genug künstlerische Mittel, um ihn zu bändigen. Der Wind, das ist die Bewegung unter der Herrschaft des Theaters und der Rede.

Wie ist es Ihnen gelungen, einen so jungen Film zu machen?

Loridan: Joris ist 90, ich bin 60. Macht zusammen 150. Picasso hat gesagt: Man braucht Zeit, um jung zu werden. Joris ist ein Mann, der Kino macht, und er ist noch nicht am Ende seines Weges angekommen.

Ivens: Für mich bedeutet das Kino mehr als für viele andere. Ich habe die Völker Krieg führen sehen, ich habe die Menschen sterben sehen, und ich habe mit ihnen gelebt. Es geht alles so schnell, und man muß bei jedem Film für den nächsten lernen. Aber das System läßt einem nicht viel Zeit. (...)

Loridan: Wir können nicht noch zehn Jahre warten, bis wir 170 sind, um den nächsten Film zu drehen. Den nächsten werden wir in Frankreich machen.

Auszüge aus einem Interview von Frederic Strauss und Serge Toubiana, vollständig nachzulesen in den 'Cahiers du Cinema‘, März 1989. Aus dem Französischen von chp

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