: Fragen an die bundesdeutsche Linke
Ohne neues Denken kein Stoff für neue Hoffnung ■ E S S A Y
China: Ein mörderisches Regime alter Männer führt Krieg gegen ein Volk, das es gewagt hat zu rebellieren. Abend für Abend erschrecken Bilder, übernommen aus dem chinesischen Fernsehen: die „Anführer der Konterrevolution“ geschunden, gequält, zum Tode verurteilt, hingerichtet. Das Entsetzen ist lähmend. Demonstrationen? Einfrieren der Entwicklungshilfe? Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen? Linke und rechte Forderungen ununterscheidbar und gleichermaßen hilflos.
Vor wenigen Wochen noch schien alles voller Hoffnung. Hunderttausende auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die Internationale singend, Demokratie fordernd; keine Polizei, kein Militär, die sich anschickten, diese Massenbewegung zu unterdrücken. Eine neue Kulturrevolution, ohne die Weisung von oben, völlig gewaltlos, nicht gegen „kapitalistische Dekadenz“, nicht gegen eine imaginäre alte Kultur, nicht gegen Fremdes wie die Tibeter gerichtet, sondern gegen die korrupte Herrschaft der Clans der alten Männer, gegen die Privilegienherrschaft der Funktionäre, für eine neue demokratische sozialistische Gesellschaft. Unvorstellbar. - Hunderttausende hier bei uns? Gewaltlos in Bonn oder auf dem Platz der Republik in Berlin? Tagelang, wochenlang. Mit der Forderung nach radikalen gesellschaftlichen Veränderungen? Und keine Polizei?
Und dann die blutige Unterdrückung. Und all jene, die das schon vorher und immer gewußt haben, die nicht verstehen können, woher die illusionäre Träumerei von einer neuen Revolution in China kommt. Es ist überhaupt die Stunde derer, die es schon immer gewußt haben. Sie sehen in China einen „Rückfall in den Maoismus“, zitieren genüßlich, daß in China plötzlich wieder vom „Klassenkampf“ die Rede sei, als wäre Klassenkampf der Kampf einer Regierung gegen das Volk, sie entdecken Parallelen zur Kulturrevolution, als gäbe es keinen Unterschied zwischen dem Terror der Roten Garden und dem Gemetzel der Militärs.
Abgesehen von der Trauer und dem Entsetzen, fällt es mir und offensichtlich nicht nur mir - unglaublich schwer zu verstehen, was gegenwärtig in den sozialistischen Ländern vorgeht. Die sowjetischen Abrüstungsinitiativen mit der stereotypen Antwort aus der Nato, sie seien ein Schritt in die richtige Richtung, die Demokratisierung in der Sowjetunion, die Autonomiestrebungen der nichtrussischen Sowjetrepubliken, der Erfolg von Solidarnosc in Polen, die bevorstehende Einführung des Mehrparteiensystems in Ungarn, die starre Diktatur in Rumänien, die Demokratiebewegung in China und ihre Unterdrückung, die Tendenz in fast allen sozialistischen Ländern, zentrale Planung wenigstens in Teilen durch Marktmechanismen zu ersetzen - dies alles sträubt sich gegen das simple Weltbild, das bei Gorbatschows Besuch in der Bundesrepublik von den Vertretern der bundesrepublikanischen Staatsmacht und Wirtschaft so borniert vorgeführt wurde: Demokratische Reformen und Wiederherstellung des Kapitalismus in den sozialistischen Ländern bildeten eine unauflösliche Einheit, Marktmechanismen und Kapitalismus seien identisch, es ist nur noch die Frage, ob und wann in den sozialistischen Ländern dieses Paket Demokratie-Kapitalismus-Markt sich durchsetzt oder ob sie „zurückfallen in den Klassenkampf“. Vor diesem Hintergrund macht ein Wirtschaftsboykott gegen China natürlich keinen Sinn. Die Fortsetzung der ökonomischen Reformpolitik in China mit Beteiligung der kapitalistischen Länder erscheint vielmehr als Garantie dafür, daß der Rest schon folgen wird. Daher auch die Hoffnung, China werde, wenn es die Reformpolitik fortsetze, schon in den „Kreis der zivilisierten Länder“ zurückkehren (wenn nicht, dann gehen wenigstens die Geschäfte gut). Macht es dieses einfältige Weltbild so schwer, eigenständige linke Positionen zu China, zu der Entwicklung in den sozialistischen Ländern allgemein, zu entwickeln? Glauben wir am Ende selbst, daß sich die sozialistischen Länder unaufhaltsam auf dem Weg zurück in den Kapitalismus befinden?
Es ist verwirrend. Die weltweite „Nachkriegsordnung“ bricht zusammen. Die starren und klaren Feindbilder, die immerhin fast ein halbes Jahrhundert funktioniert haben, lösen sich auf. Westdeutsche Arbeiter bejubeln den Generalsekretär der KPdSU, in Polen gewinnt eine gewerkschaftliche Opposition in relativ freien Wahlen alle Stimmen, die ihr von der „kommunistischen“ Staatsführung zugestanden werden, und wird dafür von der kapitalistischen Medienlandschaft gefeiert, in Rumänien hat sich eine kommunistische Monarchie etabliert, ein Teil der sozialistischen Länder wagt das Experiment einer sozialistischen Demokratie. Sozialismus und Freiheit: Ist das nicht das, wovon die Linke in Westeuropa immer geträumt hat? War es nicht der in Bewegungslosigkeit erstarrte Staatssozialismus, der linke Politik immer so aussichtslos gemacht hat? Trotzdem ist das Echo innerhalb der Linken gering. Bis jetzt gibt es kaum ernsthafte linke Analysen der Entwicklungen im „Ostblock“ (dieser Begriff wird auch bald der Vergangenheit angehören). Und entsprechend halbherzig ist auch die linke Unterstützung für die Reformbewegungen in den sozialistischen Ländern.
Fehlt uns vielleicht selber das eindeutige Feindbild, der klar erkennbare „Weltfeind Nr.1“ (mit dem obendrein noch unser innenpolitischer Gegner verbündet ist)? Haben wir aufgehört, den Traum von einer humanistischen, ökologischen, sozialistischen Welt (nicht von einer ökologischen Idylle auf dem Land) zu träumen? Ist der Kampf der chinesischen Studenten und Arbeiter etwa deshalb nicht unser Kampf, weil wir selber die Hoffnung schon aufgegeben haben?
Peter Gäng
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