: Die Nachkriegszeit ist vorbei
George McGovern, 1972 Präsidentschaftskandidat und Hoffnung der Linken in den USA, hält heute Gastvorlesungen über strategische Fragen der Weltpolitik ■ I N T E R V I E W
taz: Vierzig Jahre lang waren die internationalen Beziehungen weltweit vom „kalten Krieg“ geprägt. Von wo geht die historische Dynamik in diesen Tagen aus?
George McGovern: Offensichtlich befindet sich der Kommunismus in einem sozialen und politischen Gärungsprozeß. Es steht meiner Meinung nach außer Frage, daß sowohl in China wie auch in der Sowjetunion tiefgreifende politische und ökonomische Umwälzungen stattfinden. Und auch wenn es von Zeit zu Zeit Rückschläge geben wird, wie wir einen in den letzten Wochen in China erlebt haben, glaube ich, daß es einen übermächtigen, zwingenden Trend in Richting auf einen demokratischen Umbruch gibt.
Stalin hat in einem berühmten Satz reklamiert, daß bis dorthin, wo die sowjetischen Truppen im Zweiten Weltkrieg gekommen sind, auch die sowjetische Einflußsphäre reichen soll. Ist dieser Anspruch heute nicht mehr gültig?
Selbstverständlich gibt es auch heute noch Restbestände des kalten Krieges, die Supermächte sind weiterhin hoch gerüstet, die Verteidigungshaushalte werden weiterhin auf schwindelerregender Höhe gehalten, all das weist darauf hin, daß der kalte Krieg nicht vollständig überwunden ist. Aber wir befinden uns ganz eindeutig in einer Ära, die von Verhandlungen, Kompromissen und Annäherung gekennzeichnet ist statt von Konfrontation und militärischer Intervention. Die Nachkriegszeit ist endgültig vorbei.
Hat die internationale Politik damit ein neues Vorzeichen bekommen - weg vom Primat der Politik, der die Abgrenzungen und Blockbildungen hervortrieb, hin zum Primat der Ökonomie mit dem Ziel der Eroberung neuer Märkte?
Ja, ich glaube die Betonung liegt heute tatsächlich mehr auf den ökonomischen als auf den militärischen Faktoren auch wenn die weiterhin sehr bedeutend sind, hat die politische Aktion sich deutlich auf das Feld der Ökonomie verlagert. Schließlich gibt es ja auch nur sehr wenige Probleme in der Welt - falls es überhaupt irgendwelche gibt
-, die mit militärischen Mitteln zu lösen wären. Die meisten Probleme, die heute zu lösen sind, egal ob in der Sowjetunion oder in China, in Westeuropa oder den USA und vor allem in der Dritten Welt, sind wirtschaftlicher und sozialer Art.
Während die USA die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion immer schärfstens kritisierten, wird jetzt mit China außerordentlich moderat umgegangen. Hat der Run auf neue Märkte die „Werte der westlichen Welt“ zu Ladenhütern gemacht?
In den USA gab es immer ganz große Erwartungen an China, ganz anders als an die Sowjetunion, und ich glaube, das geht sogar zurück bis ins 19.Jahrhundert, als wir eine Art Missionierungskomplex gegenüber China hatten. Und heute gibt es sehr ambivalente Gefühle gegenüber China: zuerst eine große Euphorie über die demokratischen Initiativen, jetzt große Enttäuschung über den Rückschlag. Ich schätze, die Bush-Administration hält sich damit zurück, auf die chinesische Führung einzudreschen, weil sie immer noch hofft, mit diesen Leuten ein annehmbares Agreement zu erreichen. Ich persönlich finde allerdings, daß es nur eine sehr scharfe Kritik an dem Gemetzel in Peking geben kann, und zwar nicht etwa an der Armee, hier geht es um einen monströsen Fehler der politischen Führung. Aber, wie gesagt, ich glaube, Bush will die Tür offen halten, um gegenüber der chinesichen Führung Verhandlungsmöglichkeiten zu behalten.
Das ist aber nicht allein von seinem vorsichtigen Taktieren abhängig. Die Flucht des bekannten Dissidenten Fang Lizhi in die US-Botschaft verschärft doch die Situation und zwingt zum Handeln.
Ich finde, daß wir Dissidenten wie ihm Asyl gewähren sollten, und das ist schließlich ein akzeptierter internationaler Grundsatz, und dem sollten wir gerade jetzt auch in China folgen.
Die chinesische Führung hat dafür plädiert, eine „Einmischung“ der USA nicht zu dulden und sich stärker der Sowjetunion zuzuwenden. Ist das eine strategische Bedrohung für die US-Außenpolitik?
Strategische Optionen bergen immer Risiken. Und wenn die chinesische Führung ihre Kontakte zur SU verstärken will, so ist das ihr gutes Recht. Aber es ist ebenso das gute Recht der USA, auf dem Prinzip der Asylgewährung zu bestehen. Da muß man sich eben entscheiden.
Im Augenblick gibt es ja nach der Zeit der klaren Blockabgrenzungen eine Art Strategischer Unübersichtlichkeit. Könnten Sie einmal ihre Vorstellungen einer neuen strategischen Weltordnung ausmalen?
Nun, zuerst einmal erwarte ich, daß die Konfrontation in Europa zwischen der Nato auf der einen und dem Warschauer Pakt auf der anderen Seite langsam zu Ende geht. Die Ost -West-Spaltung erscheint mir mehr und mehr als eine künstliche Sache. Es gibt gar nicht mehr so viele echte Konfliktpunkte. Wir sollten die militärischen Funktionen von Nato und Warschauer Pakt weiter abbauen und nach Feldern der Verständigung Ausschau halten. Handel, Umweltprobleme, kultureller Austausch, all das, was heute schon in Bewegung ist, muß ausgeweitet werden. Und wir müssen eben alles tun, um die Entwicklungsprobleme der Dritten Welt zu lösen, da leben schließlich die meisten Menschen. Und sogar vom Standpunkt wirtschaftlichen Eigeninteresses aus können es sich die Industrienationen nicht weiter leisten, daß die Länder der Dritten Welt weiter in Armut leben und diese ungeheure Schuldenlast mitschleppen. Das wird die zentrale Herausforderung am Ende unseres Jahrhunderts sein: verstärkte internationale Anstrengungen der entwickelten Länder dafür, Entwicklung und Fortschritt für die Dritte Welt zu organisieren.
Noch einmal zurück zu Europa: In der Londoner 'Times‘ stand anläßlich des Gorbatschow-Besuchs in Bonn ein Kommentar, der vor der drohenden Wiedervereinigung Deutschlands warnte, aus Frankreich gibt es ähnliche Stimmen. Finden Sie das auch bedrohlich?
Ach was.
Warum nicht?
Nun, ich halte das nicht für ein Problem mit höchster Priorität. Sicher, die Wiedervereinigung Deutschlands ist wieder vorstellbar geworden, aber nur als langfristiger Prozeß, der sicher dieses Jahrzehnt noch brauchen wird. In dem Maße, wie die Ost-West-Spannung abnimmt, werden auch immer weniger Leute Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland haben. Derzeit scheinen aber auch die Deutschen selbst nicht so sehr an dieser Frage interessiert zu sein. Ich denke, die Geschichte wird sich dieser ganzen Sache annehmen.
Als Sie Präsidentschaftskandidat waren, was waren da Ihre allerwildesten Phantsien über die Entwicklung der Blocksysteme?
Das ist ja nun einige Zeit her, aber 1972, als ich mich um die Präsidentschaft bewarb und dann gegen Nixon unterlag, habe ich in der Tat Visionen über die Entwicklung der Blöcke gehabt, die dem derzeitigen Prozeß sehr ähnlich sind. Und ich glaube, wir hätten all dies auch schon früher haben können, wenn es in den verschiedenen Ländern ein paar intelligente Anstrengungen dazu gegeben hätte, Bereiche gemeinsamer Interessen herauszuarbeiten. An erster Stelle ganz schlicht das Überleben. Und dem Sprengsatz des Rüstungswettlaufs zu entkommen war schon vor zwanzig Jahren in unserem Interesse. Da hätten eben schon damals Schritte in diese Richtung getan werden müssen, anstatt darauf zu warten, daß Herr Gorbatschow die ganze Welt in diese Richtung zieht.
Er hat die Show gestohlen?
Ja, genau das hat er gemacht. Natürlich bin ich jetzt froh, daß die sowjetische Führung in dieser Weise agiert. Aber das war eben eine Option, die auch uns vor Jahren offen stand und wofür ich schon in der Vietnamkriegszeit Aufmerksamkeit zu wecken versuchte. Der Vietnamkrieg war ein entsetzlicher Rückschlag für die Vereinigten Staaten. Er hat unserer Außenpolitik Schaden zugefügt und er hat unserer Gesellschaft zu Hause Schaden zugefügt. Das war ein tragischer Fehler, der uns einen furchtbaren Preis abverlangt hat.
Interview: Georgia Tornow
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