: Familiendrama und Eurokrimi
■ Zum diesjährigen internationalen Krimifestival im italienischen Cattolica (23.6.-1.7.)
Als Massenwaren - vor allem des Fernsehens - abgetan, werden Krimis oft nur als kurzlebige Konsumartikel betrachtet. Das „MYSTFEST-Festival Internazionale del Giallo e del Mistero“ will die Möglichkeiten und Qualitäten dieses häufig unterschätzten Genres der Massenkultur aufzeigen. Außerhalb Italiens ist das Festival in Cattolica fast nur bei Krimiinsidern bekannt, obwohl illustre Namen wie Chabrol, Wertmüller oder Eco in der Festivalgeschichte auftauchen.
Zur diesjährigen Jury gehörten unter anderen Terence Young (GB), Fernanda Pivano (I), Phillip Noyce (Australia), Roland Topor (F) und Josoph Lewis (USA). Mit seinem Kinoerstling Criminal Law erhielt der in den USA arbeitende Brite Martin Campbell den Preis für den besten Film. Die Jury hatte sich damit für einen klassischen Thriller mit unübersehbarer Anlehnung an Hitchcocks Psycho entschieden. Der ehrgeizige Anwalt Chase verteidigt erfolgreich Martin Thiel, ein des mehrfachen Frauenmordes verdächtiges Muttersöhnchen. Dem Yuppie Chase kommen berechtigte Zweifel an der Unschuld Thiels, doch die schiebt er kurzerhand beiseite, denn es locken Geld und Ruhm. Nur das beherzte Engagement von Ellen, der Freundin einer Ermordeten, läßt den Fall Theil nicht ruhen. Thiel erweist sich als Nachfahre von Norman Bates, aber Campbell kann dem bekannten Sujet nicht viel Neues hinzufügen.
Gleich eine doppelte Auszeichnung erhielt der bundesdeutsche Beitrag Eis von Berthold Mittermayr. Die Prämierung überraschte, nicht weil sie unberechtigt erschien, im Gegenteil, nur hatte die zurückhaltende Reaktion auf diese österreichisch-ungarische Spionagegeschichte eine Prämierung kaum erwarten lassen. Mittermayr erhielt eine Auszeichnung für das beste Drehbuch, sein Protagonist Erwin Leder erhielt den Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller. Eis hat nach dem „Max -Ophüls-Preis“ nun weitere Festivalehren erhalten. In Berlin lief Eis während der Berlinale außerhalb des Festivalprogramms.
Der Preis für die beste weibliche Hauptdarstellerin ging an die Französin Catherine Wilkening für ihre Rolle in Marc Rivieeres Le Crime d'Antoine. Den Grund für diese Entscheidung kann man nur im Kurzzeitgedächtnis der Jury suchen: Rivieres Film lief als letzter Festivalbeitrag.
Zwei der Wettbewerbsfilme in Cattolica: eine amerikanische Sozialstudie und ein europäischer Polit-Thriller - beide stellten beunruhigende Fragen an unsere Realität - fanden nicht die Anerkennung der Jury, die sie verdient hätten.
Anthony Simmons‘ Little Sweetheart entwickelt das Psychogramm eines neunjährigen Mädchens, dessen Sozialisation vor allem durch das Fernsehen bestimmt ist. In der Romanvorlage von Arthur Wise ist die Handlung in Frankreich angesiedelt, der Brite Simmons verlegte sie im Film nach Florida in ein, seiner Meinung nach, relevanteres Ambiente für die Geschichte.
Die neunjährige Thelma lebt mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder in einer entlegenen Gegend Floridas. Die Familienkontakte reduzieren sich auf die Mahlzeiten. Von der Alleinverantwortung für die Familie offensichtlich überfordert, ist die Mutter über jede ruhige Minute froh. Dem großen Bruder kommt dies sehr gelegen für seine heimlichen Rendezvous mit der von der Mutter abgelehnten Freundin. Thelma verbringt die meiste Zeit vor dem Fernseher, entweder zu Hause oder im Drugstore, irgendwo läuft immer eine Glotze. Sie schaut sich die Rambos der Actionfilme, die Nachrichtenbilder von Kriegsschauplätzen und die Horrorgestalten der Mitternachtsprogramme mit unveränderter Teilnahmslosigkeit an. Die Bilder gleichen sich ohnehin. Bei einem Streifzug durch die trostlose Gegend stöbert sie, zusammen mit einer gleichaltrigen Freundin, ein seltsames Touristenpaar auf. Thelma ahnt, daß die beiden etwas zu verbergen haben, spioniert ihnen hinterher, versucht sich in Erpressung und kommt in den Besitz eines Revolvers. Im Streit mit der Freundin imitiert sie die wohlbekannten Posen der Bildschirmhelden, zieht den Revolver und schießt. Doch Thelmas Realitätsverlust hat einen Grad erreicht, in dem sie das reale Erlebnis so teilnahmslos läßt wie das elektronische Bild. Little Sweetheart ist keine platte These zur Medienmacht und schon gar nicht Aufruf zur Bildschirmzensur. Simmons stellt die Frage, welche Macht Medienrealität erringen kann, wenn andere Sozialisationsfaktoren weitgehend wegfallen.
Ganz im Zeichen Europas steht der brisante Polit-Thriller Trouble in Paradise des Belgiers Robbe de Hert. Die Produktionsgeschichte ist mindestens so interessant wie der Film. Seit 1980 gab es die Idee, 1987 begannen die Dreharbeiten, Probleme mit den amerikanischen Ko-produzenten verzögerten die Fertigstellung, und ein Veto der konservativen deutschen Politik im Europaparlament wegen Ähnlichkeiten zur Barschel-Affäre sorgte für Aufregung. Manchmal holt die Realität die Fiktion ein. Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen waren nicht beabsichtigt, de Hert wollte in Trouble in Paradise Mechanismen aufzeigen.
Eine Friedensgruppe und zwei Journalisten sind den illegalen Waffenlieferungen von Europa und den USA in Dritte -Welt-Länder auf der Spur. Sie stoßen auf das holländische Transportunternehmen Kusters, das offensichtlich eine wichtige Rolle im Waffenhandel zwischen den USA und dem Iran spielt. Kusters ahnungslose Ehefrau Ann ist Simultanübersetzerin im Europaparlament in Straßburg. Ann hat eine Affäre mit einem französischen Parlamentarier, der sich für die Kontrolle des Waffenhandels einsetzt. Erpressung, ein fragwürdiger Selbstmord, eine Entführung und Intrigen bestimmen den Fortgang der Geschichte. In Cattolica blieb Trouble in Paradise unbeachtet. Beim Start in bundesdeutschen Kinos wird es vielleicht anders sein.
Nervenkitzel nicht mediatisierter Art erlebte die Jury am vorletzten Abend des Festivals. Nach der Kinovorstellung war der Minibus, der als Juryshuttle zwischen Hotel und Kino fungiert, verschwunden. Das Rätsel löste sich schon am nächsten Tag. Unbeschädigt fand sich der Bus in der Nähe des Strandes wieder ein.
Frauke Greiner
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