„Aids ist nur ein Vorwand“

■ Die Schriftstellerin und Essayistin Susan Sonntag über ihr neues Buch „Aids und seine Metaphern“, amerikanische Literatur und mitteleuropäischen Provinzialismus. Anläßlich einer „Mitteleuropa„-Tagung in Budapest sprachen Monika Czenin und Oliver Lehmann mit ihr

Falter: Vor zehn Jahren erschien ihr Buch „Krankheit als Metapher“, in diesem Jahr kam ein thematisch ähnliches Buch von Ihnen auf den Markt: „Aids und seine Metaphern“. Was haben die beiden Bücher miteinander zu tun?

Susan Sonntag: Diese beiden Bücher sind eigentlich ein Buch, beziehunsweise ist Aids und seine Metaphern eine Fortsetzung des ersten Buches. Als vor einem Jahr eine neue Ausgabe von Krankheit als Metapher herausgegeben werden sollte, dachte ich mir, daß ich zumindest einen dreiseitigen Anfang darüber schreiben sollte, wie die Ideen in Krankheit als Metapher auf Aids angewendet werden können. Vor eineinhalb Jahren habe ich mich also hingesetzt, um diese drei Seiten zu schreiben, und ein Jahr später bin ich mit einem Buch von 90 Seiten wieder aufgetaucht. Trotz seines Titels handelt es nicht nur von Aids; Aids ist nur ein Vorwand, um den metaphorischen oder symbolischen oder auch demagogischen Gebrauch von Krankheit zu überprüfen.

In dieser rationalen, von Technologie und Wissenschaft beherrschten Welt besteht offenbar ein verstärktes Verlangen nach Metaphern.

Ich bin mir nicht sicher, ob ein größerer Bedarf nach Metaphorik besteht. Aber ich glaube, daß sich die Metaphern verändert haben und daß Krankheit etwas ist, bei dem sich die Leute schwer tun, nicht metaphorisch zu denken. Krankheiten werden benützt, um moralisierende Ideen, oder auch ethische Anliegen, die heute über kein religiöses Vokabular mehr verfügen, auszudrücken. Ich glaube nicht, daß man metaphorisches Denken eliminieren kann, noch glaube ich, daß es erstrebenswert ist. Aber man sollte ihm gegenüber kritisch sein. Bei Krankheiten hat metaphorisches Denken viele Nachteile. Zum einen fördert es wissenschaftlich unkorrekte Ideen und vermehrt irrationale Furcht. Zum anderen ist es sehr bestrafend, herabwürdigend für die Patienten, die sich nicht nur der Krankheit entsprechend schlecht fühlen, sondern sich auch noch ihrer schämen.

Gab es unterschiedliche Reaktionen auf die beiden Bücher?

In Krankheit als Metapher gab es ein Argument für die klassische Medizin. Ich habe die psychosomatische Erklärung von Krankheit angegriffen und behauptet, daß der beste Weg mit Krankheit umzugehen, jener ist, der Krankheit als physisches Ereignis auffaßt. Wenn man von einem Auto angefahren wird, geht man ja auch nicht zum Psychotherapeuten oder stellt seine Ernährung auf eine makrobiotische Diät um. Wenn man Krebs bekommt, sollte man sich keiner anderen Behandlung unterziehen als jener nach einem Autounfall. Dieses Argument habe ich sehr vehement in Krankheit als Metapher vertreten, und niemand hat das angegriffen. Das selbe Argument vertrete ich in Aids und seine Metaphern - diesmal wurde ich darfür stark kritisiert.

Aber es gibt doch einen großen Unterschied zwischen Krebs und Aids. Krebs ist in vielen Fällen heilbar, was man von Aids bis jetzt nicht behaupten kann.

Das ist natürlich ein großer Unterschied. Denn Aids ist das, was von Krebs lange befürchtet wurde, nämlich eine Krankheit, für die es keine heilende Behandlung gibt. Ich glaube aber an zwei Sachen, das eine ist offensichtlich, das andere nicht so: wenn man eine gute Behandlung bekommt, lebt man länger. Das zweite ist: Ich bin nicht überzeugt, daß jeder, der infiziert ist, auch wirklich erkranken wird. Kein Arzt, mit dem ich gesprochen habe, glaubt an ein Impfserum oder eine endgültige Heilung, aber sie sind der Überzeugung, daß es ihnen gelingen wird, ähnlich wie bei Diabetes eine Stabilisierung der Krankheit herbeizuführen.

Geht die metaphorische Betrachtung von Aids, so wie bei Krebs, zurück?

Nein. Das glaube ich nicht. Obwohl mein Buch Krankheit als Metapher als Klassiker gilt, werden weiterhin Metaphern für Krebs verwendet. Aber Krebs wird nicht mehr so versteckt wie zuvor. Vielleicht auch deswegen, weil die neue Krankheit ein Tabu geworden ist.

Die Angst vor Aids ähnelt der Angst vor Umweltkatastrophen, vor Krebs, vor Situationen, die man nicht mehr in der Hand hat.

Es gibt das Verlangen der Menschen, Vokabeln zu finden für Dinge, von denen sie übermannt sind und sich machtlos ihnen gegenüber fühlen. Es gibt eine irrationale Angst vor Aids. In Ländern, wo es kaum Aids-Fälle gibt, sind die Leute verängstigt, und sie wenden irrationale Vorkehrungen an. In Ländern wie Schweden, wo es kaum Aids-Fälle gibt, spricht jeder über Aids. Ich glaube, es gibt zwei Gründe dafür. Der eine ist, daß jede Krankheit, die sexuell übertragen wird, immer irrationale Gefühle produziert, der zweite Grund ist, daß sie irgendwie mit allgemeinen Ängsten über die Umweltverschmutzung in Verbindung gebracht wird. Diese sogenannte ökologische Angst, die gut begründet ist, wird übersetzt in eine Angst vor einer Krankheit, die auf Wegen übertragen werden kann, die man nicht erwartete. So wird Krankheit ein Vehikel für andere Ängste, für sexuelle Ängste und Ängste um die Umwelt. Ich verwende das Wort Metapher, aber ich hätte genauso „Krankheit als Mystifikation“ oder „Krankheit als demagogisches Denken“ oder „Krankheit als Projektion“ sagen können. Metapher ist nur ein Wort, um den Prozeß der Projektion anderer Ängste auf Krankheit zu beschreiben.

Bei vielen Ihrer Essays hat man den Eindruck, daß es sich um Untersuchungen solcher Projektionen handelt.

Ja, das stimmt. Aber Projektion ist im Englischen kein schönes Wort. „Krankheit als Projektion“ oder „Aids als seine Projektion“ wäre eine sehr exakte Beschreibung. In den Essays, die ich schreibe, ist das Thema nur ein Vorwand für eine Plattform, um über andere Dinge zu reden. All diese Essays handeln in Wirklichkeit davon, wie Menschen heute denken, wie sie sich ihre Urteile bilden, wie sie ihre Erfahrung „erfahren“. Wie sie über Ewigkeit, Katastrophe und Geschichte und den Persönlichkeitsbegriff denken. Das Buch über Fotografie ist in Wirklichkeit ein Buch über die moderne Welt, in dem die Fotografie als Vorwand dient. Die zwei kleinen Bücher über Krankheit sind in Wirklichkeit Bücher über die moderne Welt. Sie benützen Krankheit als Plattform, um über andere Dinge zu reden.

Bei dieser Tagung meinte der Verleger Heinrich Ledig -Rowohlt, daß Sie und andere amerikanische Autoren Intellektuelle wären, die am liebsten in einem Wiener Cafehaus sitzen würden, um mit Kafka oder Musil zu plaudern. Sehen Sie sich in dieser Tradition? Außerdem warf er Ihnen vor, die amerikanische Literatur nicht entsprechend zu würdigen.

Ledig-Rowohlt ist ein lieber alter Herr, der stolz ist, daß er Thomas Woolfe kannte, und er hat diese Phantasievorstellungen über amerikanische Literatur. Vielleicht liebe ich die amerikanische Literatur weniger als er, vielleicht ist die europäische Literatur für mich interessanter. Ich habe zwei Arten zu schreiben, eine ist Fiktion, die andere ist das Essay. Benjamin und frühe Arbeiten von Adorno sind da meine Vorbilder. Ich habe viele Essays geschrieben, vielleicht zu viele. Aber mich als Intellektuelle zu bezeichnen...? Soziologisch bin ich eine Intellektuelle, aber ich habe kein Interesse, mich soziologisch zu sehen. Ich definiere mich als Schriftstellerin.

Ledig-Rowohlt möchte Amerikaner dazu bringen, zu sagen, daß sie ihre Literatur lieben. Es gibt nicht viele zeitgenössische Autoren, die ich mag, woher auch immer sie kommen. Das betrifft nicht nur Amerika. Aber was Ledig -Rowohlt nicht so angenehm ist, was ihm aber angenehm sein sollte, ist, daß die Amerikaner für Selbstkritik Talent haben. Gott sei Dank! Wenn dem nicht so wäre, wären die USA ein absolut unerträgliches Land. Wir haben eine sehr starke Tradition der Selbstkritik. So wie wir eine starke Tradition des Interesses am Ausland haben. Schließlich sind wir ein Land von Ausländern und den Nachkommen von Ausländern. Wir sind kein wirkliches Land. Wir sind ein Anthologieland. Viele amerikanische Schriftsteller sind dementsprechend sophisticated und international. Ich ziehe die Fähigkeit zur Selbstkritik der Amerikaner der Selbstbeweihräucherung der Franzosen und Italiener vor. Es ist schon in Ordnung, wenn wir unsere eigene Literatur nicht so sehr schätzen. Es ist eine ganz gute Position, etwas unbequem zu sein. Wenn wir uns ständig selber dazu gratulieren würden, daß wir Falkner und Pynchon haben, stünde es weniger gut um uns.

In der Diskussion über die amerikanische Literatur haben Sie den immer wichtiger werdenden Einfluß der asiatischen und lateinamerikanischen Einwanderer in den USA erwähnt. Sie prophezeiten Ihren Kollegen, daß sie sich auch noch einmal mit diesen Einflüssen auseinandersetzen werden müssen. Welche Rolle spielen die Veränderungen für Sie?

Das war natürlich rhetorisch gemeint. Die anwesenden Autoren werden weiterhin das machen, was sie jetzt machen und wenn sie 100 Jahre alt werden. Ich weiß nicht, wie sehr diese Veränderungen mein Schreiben beeinflussen werden. Es wird zweifellos mein Denken und meine Erfahrung verändern. Amerikaner, die nicht merken, wie sich das Land wandelt, bringen mich sehr auf. 25 Prozent der Studenten an unseren wichtigsten Universitäten kommen heute aus Asien. Die Beziehung zur pazifischen und Spanisch sprechenden Welt muß wichtiger werden und wird die Textur amerikanischen Lebens im kommenden Jahrzehnt grundlegend verändern. Ich bedauere Schriftsteller an einem Ort wie Israel, die das Gefühl haben, daß sich ihr Schreiben auf dieses politische Drama beziehen muß. Oder Südafrika, Ungarn, Polen, Südamerika. Wir haben den Vorteil - und müssen daraus das Beste machen kein obligatorisches, verbindliches Thema zu haben. Andererseits: keine 50 Meter von meiner Wohnug leben Menschen von März bis Dezember auf der Straße und schlafen auf Pappkartons. Literatur muß nicht politisch sein, aber es besteht ein erschreckender Mangel an sozialem Bewußtsein, nicht nur bei Schriftstellern.

Die Amerikaner werden sich also der neuen Einflüsse bewußt, die afrikanischen Schriftsteller haben keine Schwierigkeiten, Englisch beziehungsweise Französisch als lingua franca zu verwenden. Auf der anderen Seite waren es die Europäer, die mit dem Mitteleuropagedanken eine eigenartige Form von Provinzialismus entwickelt haben. Es hatte den Anschein, als ob sie nicht mehr über den eigenen Tellerrand hinaussehen.

Bei der Tagung letztes Jahr in Lissabon war die Diskussion über Mitteleuropa viel lebendiger und kosmopolitischer. Vielleicht, weil die Tagung in Budapest stattfindet und deshalb, weil die Leute ermutigt, aber zugleich verunsichert und erschöpft sind von der Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge verändern. Die haben jetzt das, was sie wollten, aber was heißt das und unter welchen Bedingungen? Und was sind die Konsequenzen? Letztes Jahr wäre man noch verhaftet worden, wenn man das Grab Imre Nagys besucht hätte. Jetzt ist es ein nationales Denkmal. Man hat das Gefühl, daß sie den Flughafen nach Nagy benennen werden. Ich war beeindruckt vom mangelnden Enthusiasmus für die Idee „Mitteleuropa“, die vorher sehr nützlich schien, um die Ost-West-Polarisierung zu reduzieren, einen Zwischenraum zu schaffen, der natürlich nicht ganz unabhängig von der Sowjetunion, zum Beispiel in der Außenpolitik, ist. Etwas, das man Finnlandisierung genannt hat. Aber jetzt, wo das möglich scheint, sind die Leute über den Verlust der nationalen Kultur besorgt. Nationalismus ist die hartnäckigste Eigenschaft im modernen politischen Denken.

Bücher von Susan Sonntag in deutscher Übersetzung

Aids und seine Metaphern, 1989, 100 Seiten, 14,80 Mark

Todesstation, 1985

Im Zeichen des Saturns, Essays, 1981

Kunst und Antikunst, Essays, 1980

Krankheit als Metapher, 1980

Über Fotografie, 1978/1989

Ich, etc., Erzählungen, 1979

Alle Bücher sind im Hanser-Verlag erschienen