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Kleine Schritte nach Europa

Gorbatschows Auftritt vor dem Europarat  ■ K O M M E N T A R E

Wer gestern in Straßburg von Gorbatschow den endgültigen Entwurf für ein Europa des Jahres 2000 erwartet hatte, muß von der Rede enttäuscht sein. Doch der Weg zu einem gemeinsamen Europa wird zwar durch Visionen beflügelt, braucht aber konkrete Wegweiser. Gorbatschow hat sich in Straßburg bemüht, einige davon aufzustellen. Dabei ist er in doppelter Weise auf die Hindernisse eingegangen, die einem gemeinsamen Haus bis jetzt im Weg stehen.

Zum einen berücksichtigte er - wenn auch nur indirekt - die wesentliche Kritik der wichtigsten westlichen Regierungen, daß ein gemeinsames Haus die Freizügigkeit seiner Bewohner voraussetzt. Sein Hinweis auf ein grenzüberschreitendes gemeinsames europäisches Fernsehen auf dem neuesten technischen Stand und sein Plädoyer für einen europäischen Rechtsraum, in dem die Menschenrechte in den einzelnen Ländern überprüft und letztlich auf den gleichen Stand gebracht werden, sind zweifellos erste kleine Schritte in diese Richtung. Auch ein sowjetischer Beitritt zu einigen Konventionen des Europarates würde neue Ebenen der Zusammenarbeit schaffen, die früher oder später die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ost und West erhöhen würde.

Zu Recht hat Gorbatschow aber auch ausführlich auf das zweite große Hindernis einer gemeinsamen europäischen Zukunft hingewiesen: Ein gemeinsames Haus ist nicht denkbar, solange die Länder sich mit Atomwaffen bedrohen, deren Einsatz Europa vernichten würde. Zum Entsetzen der USA, die Ähnliches bereits während des Gorbatschow-Besuchs in Bonn befürchtet hatte, erneuerte der Kreml-Chef sein Drängen auf eine völlige Vernichtung atomarer Kurzstreckenraketen und bot sogar an, sowjetische Raketen einseitig abzubauen, sobald die Nato nur zu Gesprächen bereit sei.

Was spricht eigentlich dagegen, fragte Gorbatschow die Nato -Staaten, daß sich Experten nicht nur aus der UdSSR und den USA, sondern auch aus Frankreich und Großbritannien zusammensetzen und endlich tiefgehende Gespräche über diese Fragen führen? Gorbatschow weiß, daß die bisherige Antwort der Nato auf diese Frage die Mehrheit der Westeuropäer sowenig überzeugt hat wie ihn selbst. Dieses Bewußtsein ist Europas größte Chance. Es spricht für Gorbatschow, daß er sie konsequent zu nutzen versucht.

Jürgen Gottschlich

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