: Politische Neuzeit
■ Verwaltungsgericht erklärt den Polizeikessel vom 12.Juni 1987 für rechtswidrig / Die Eingekesselten werden vermutlich Anspruch auf Schmerzensgeld erheben
Mit finsterer Miene packte gestern der Rechtsvertreter der Polizei, der Krimaldirektor Arndt, im sechsten Stock des Verwaltunggerichts seine Akten ein. Eine Klägerin dagegen ließ den Sektkorken knallen. Der Grund: Die 1.Kammer des Verwaltungerichts unter dem Vorsitz von Richter Markworth hatte den Polizeikessel vom 12.Juni 87 während des Besuchs von US-Präsident Reagan für rechtswidrig erklärt (siehe auch Seite eins). Sollte das Urteil Bestand haben und alle 600 Eingekesselten Anspruch auf Schmerzensgeld erheben, wird der Polizeieinsatz das Land Berlin teuer zu stehen kommen.
In der Urteilsbegründung hatte der Vorsitzende Richter Markworth festgestellt, daß es sich bei der Demonstration auf dem Tauentzien „eher nicht“ wie von den Anwälten Ströble, Siederer und Kunze geltend gemacht, um eine Spontandemonstration, sondern um die Fortsetzung einer verbotenen Kundgebung gehandelt hatte. Auch wenn die Kammer in diesem Punkt mit den Rechtsvertretern der Polizei einer Meinung war, hielt sie Einkesselung nach dem „Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz“ (ASOG) nicht für gedeckt. Die mehrstündige Einkesselung einer 600köpfigen Menschenmenge, so Richter Markworth, sei ein so schwerwiegender Eingriff in die persönliche Bewegungsfreiheit, daß dies nicht mit einer allgemeinen Gefahrenprognose zu rechtfertigen sei. Voraussetzung hätte das Vorliegen einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr sein müssen, aber dafür habe die Beweisaufnahme keinen Beleg erbracht. „Im Gegenteil“, so Markworth, „haben sich die 600 Menschen nicht so verhalten, wie man von einer gewaltbereiten Personengruppe annehmen mußte.“ Die Kammer glaubte auch nicht, daß im Aufzug, wie von der Polizei behauptet, 60 Prozent Autonome waren. Zum einen deshalb nicht, weil die Polizei dafür jeden Beweis schuldig geblieben war, zum anderen weil „60 Prozent richtige Autonome“ im Kessel nicht nur pasiven Widerstand geleistet hätten.
Rechtsanwalt Ströbele hatte in seinem Plädoyer ausführlich dargelegt, mit welcher „Konfusion“ der Polizeieinsatz vonstatten gegangen war. So seien die Leute erst einmal für ein paar Stunden eingeschlossen und dann sei überlegt worden, was mit ihnen geschehen solle. Ströbele verwies darauf, das die „gesamte politische und Polizeiführung“ vor Ort gewesen sei, und Innensenator Kewenig den Kessel später im Innenausschuß als „notwendig und erforderlich und gegebenenfalls wiederholbar“ gerechtfertigt hatte.
Der Polizeivertreter Arndt hatte erklärt, „nicht nur Berlin, sondern auch die Deutsche Polizei“ erwarte „eine Entscheidung, die rechtsfortbildenden Charakter“ habe. Die Einkesselung bezeichnete Arndt als „Deeskalationsmaßnahme“. Der Zug habe von der Polizei nicht anders aufgelöst werden können, weil es sonst Verletzte sowie kaputte Autos und Fensterscheiben gegeben hätte: „Das wäre ein Rückfall in die polizeitaktische Steinzeit gewesen.“
plu
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen