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Der lange Arm der Revolution

■ Zwei Erzählungen des Glasgower Autors Alasdair Gray und eine Rezension seines Romans „1982 Janine“

Alasdair Gray

Heute ist Cessnock ein dichtbesiedelter Stadtteil der Industriestadt Glasgow, doch vor zweihundertunddreiundsiebzig Jahren hätte sich einem Betracher ein völlig anderes Bild geboten. Damals war hier ein Sumpf, in dessen Mitte ein Ententeich lag und an dessen Rand ein paar jämmerliche Hütten standen. Die Insassen dieser Hütten verdienten ihren Lebensunterhalt durch Stricken. Sie strickten Mützen und Schals für die Bewohner Glasgows, die schon damals beinahe nichts anderes trugen. Diese aufreibende Arbeit brachte erbärmlich wenig Geld ein. Das alte Cessnock war nicht gerade schön und hatte auch kein besonders gesundes Klima. In diesem Dorf lebte nur, wer zu alt oder vom Rheuma zu verkrümmt war, um fortziehen zu können. Aber dieser trostlose und uninteressante Flecken sah den Beginn jener Entwicklung, die Historiker die Industrielle Revolution nennen sollten, denn hier wurde im Jahre siebzehnhundertundsieben Vage McMenamy geboren, der Erfinder des langen Kurbelarms, der die Revolution erst möglich machte.

Es gibt keine Aufzeichnungen, aus denen sich erkennen ließe, daß Vage McMenamy Eltern gehabt hätte. Anscheinend lebte er von frühester Jugend an bei seiner Großmutter und ernährte sich von Enteneiern und dem Erlös ihrer Strickerei. Ein deutscher Biograph vermutete, es handele sich bei McMenamys Vornamen um einen Spitznamen. Das ist natürlich lachhaft. Sein langer Kurbelarm beweist, daß kein Mann je weitsichtiger gewesen wäre oder fester mit beiden Beinen auf der Erde gestanden hätte als McMenamy. Der gelehrte Herr Professor ist sich offenbar der Tatsache nicht bewußt, daß sich Vage aus dem Gälischen ableitet und soviel wie „Alexander“ heißt. Vage war jedoch, das können wir nicht verheimlichen, ein Eigenbrödler. Während andere Jungen den Mädchen nachstellten oder sich mit Steinen bewarfen, stand er endlose Stunden am Ufer des Ententeiches und überlegte, wie er die Enten seiner Oma verbessern könnte.

Rein mechanisch gesehen ist die Ente keine besonders gelungene Maschine, da sie drei außerordentlich verschiedene und in sich widersprüchliche Aufgaben erfüllen muß, und folglich auf keinem Gebiet Glanzleistungen vollbringt. Sie fliegt, aber längst nicht so gekonnt wie eine Schwalbe, ein Geier oder ein Flugzeug. Sie schwimmt, doch nicht so gut wie ein Delphin. Sie kann laufen, aber nicht so wie du und ich, denn ihre Beine sind viel zu kurz. Stell dir ein Küchengerät vor, das Teppiche reinigen, Kartoffeln stampfen oder Socken stopfen soll, wann immer es Lust dazu hat. Enten sind in einer ähnlichen Situation, und das machte Enten zu einer Beleidigung für McMenamys überaus praktischen Verstand. Da Enten die meiste Zeit auf dem Wasser verbringen, überlegte er, sollte man dafür sorgen, daß sie es möglichst effektiv tun. Mit Hilfe eines gutwilligen Tischlers zimmerte er sich einen bootsförmigen Behälter, in den er eine Ente stopfte. An einem Ende ließ er ein Loch, durch das die Ente ihren Kopf stecken konnte, damit das Tier atmen, sehen und sogar fressen konnte; trotzdem protestierte es gegen diese Einschränkung und flatterte und strampelte wie um sein Leben. Durch diese Bewegungen trieben die Flügel und Flossen der Ente eine Kurbel an, die ihrerseits wiederum die Schaufelräder zu beiden Seiten des Behälters bewegte. Auf ihrer Jungfernfahrt schoß die Ente mit dreißig Knoten im Zickzack um den Teich, eine Geschwindigkeit, die dreimal höher war als die, die je ein Boot oder eine Ente bis dahin erreicht hatte. McMenamy hatte einen dilettantischen Alleskönner in einen leistungsfähigen Spezialisten verwandelt. Er war noch keine dreizehn Jahre alt.

Aber das war erst der Anfang. Wenn dieser lange Kurbelarm das Boot einer Ente dreimal schneller als bisher schwimmen ließ, wieviel schneller würden es zwei, drei oder zehn Enten antreiben? McMenamy beschloß, das Experiment auf die Spitze zu treiben. Er konstruierte ein Gefährt, das von allen siebzehn Enten seiner Oma angetrieben werden sollte. Es unterschied sich auch noch in anderer Hinsicht von seinem Vorgänger. Hatte er beim ersten Mal eine tradititonelle Bootsform gebaut, die von Schaufelrädern angetrieben und ganz aus Holz konstruiert worden war, so hatte das zweite Gefährt die Form einer Zigarre mit einer Schraube am Ende. McMenamy bestellte es diesmal auch nicht beim Tischler, sondern beim Schmied. Es war aus Eisenblech. Ohne die siebzehn Köpfe und Nacken, die aus den Löchern im Rumpf ragten, hätte man es für ein modernes U-Boot halten können. Ein bemerkenswerter Fall. Einhundert Jahre sollten vergehen, ehe die „Charlotte Dundas“, der erste Raddampfer der Welt, von Bowling den Forth-Clyde-Kanal hinunterscheppern sollte. Und weitere fünfzig Jahre würden vergehen, bis das erste eisenverkleidete, schraubengetriebene Kriegsschiff den ersten Schuß im amerikanischen Bürgerkrieg abfeuern sollte. In nur zwei Jahren hatte die Phantasie eines einfachen Hüttenjungen Probleme bewältigt, für deren Lösung im nächsten Jahrhundert die besten Ingenieure der Welt noch zwei Generationen brauchen sollten. Vage war fünfzehn Jahre alt, als er sein zweites Gefährt vom Stapel ließ. Wie verrückt schnatternd überquerte es den Teich mit solch einer Geschwindigkeit, daß es im Moment seines Stapellaufs bereits das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte. Wäre es in das offene Land getrieben worden, hätte es sich darin eingegraben. Unglücklicherweise aber stieß es gegen eine Baumwurzel, prallte zurück bis in die Mitte des Teichs, kenterte und sank. Die Enten ertranken, nicht eine überlebte.

Als Errungenschaft der Menschheit steht McMenamys Entenboot auf einer Stufe mit Leonardo da Vincis Hubschrauber, für den erst vierhundert Jahre später die Maschine erfunden werden sollte, mit deren Hilfe er fliegen konnte. In ökonomischer Hinsicht war es eine Katastrophe. Ihrer Enten beraubt, mußte Oma McMenamy schneller stricken als je zuvor. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl, strickte und schaukelte und schaukelte und strickte, und McMenamy saß ihr gegenüber und grübelte darüber nach, wie er ihr helfen könnte. Er bemerkte, daß die Muskelenergie, die seine Oma verbrauchte, um die Nadeln zu halten, nicht größer war als die Energie, mit der sie den Stuhl zum Schaukeln brachte. Genau genommen war seine Oma zwei Energiequellen, eine oberhalb, die andere unterhalb ihrer Hüfte, und nur die obere Quelle brachte Geld ein. Wenn man die Energie ihrer Beine und Füße zum Stricken verwenden könnte, würde sie doppelt so schnell arbeiten können; und sein langer Kurbelarm machte es möglich. So erfand McMenamy den ersten Strickstuhl, der später den Spitznamen „McManemys Strick-Oma“ erhalten sollte. Zwei Nadeln, beide knapp einen Meter lang, hingen auf eine Weise von der Küchendecke, daß ihre Spitzen sich im richtigen Winkel überkreuzten. Die Bewegung wurde durch Kurbelarme übertragen, die an den Kufen eines auf Schienen befestigten, gußeisernen Schaukelstuhls angebracht worden waren. Wie rasend schaukelte McMenamys Oma in diesem Stuhl hin und her und hatte mit ihren Händen nichts weiter zu tun, als den Faden der Wollknäuel durch das verwickelte System von Ösen und Lagerrollen zu führen. Als die McMenamys in diesem Jahr ihren Vorrat an Mützen und Schals auf dem Händlerkarren in Glasgows Karrenland ausbreiteten, waren die stärksten Stricker des westlichen Schottlands, kräftige, muskelbepackte Männer um die dreißig oder fünfunddreißig, höchst erstaunt, als die sahen, daß die alte Frau McMenamy zweimal soviel geschafft hatte wie sie.

Vage war bescheiden. Er wußte, daß seine Maschine noch verbessert werden konnte. Ein Schaukelstuhl kann nur in begrenztem Maße Energie produzieren, da seine Schwingkurve einen flachen Bogen durchläuft. Für seinen zweiten Strickstuhl baute er deshalb eine Wippe. Er palzierte seine Oma auf das eine Ende und befestigte die Nadeln in Griffweite. Bisher hatte Vage es vermieden, seine Erfindungen selbst zu bedienen, doch diesmal sprang er wagemutig auf das andere Ende und brachte den mächtigen Balken ins Schwingen, auf und ab, auf und ab, mit einer Geschwindigkeit, die es seiner Oma ermöglichte, in einer Woche beachtliche achthundertneunzig Mützen und Schals herzustellen. Auf dem nächsten Markttag in Glasgow hatten sie soviel Ware anzubieten wie alle anderen Stricker zusammengenommen. So konnten sie zum halben Preis verkaufen und trotzdem noch einen recht anständigen Profit machen. Von den übrigen Einwohnern Cessnocks brachte keiner seine Ware an den Mann. Mit der Verzweiflung verhungernder Menschen steckten sie McMenamys Hütte und die darin befindliche Maschine in Brand. Vage und seine Oma mußten über den Sumpf fliehen und ihr hart verdientes Geld in der Hütte zurücklassen, wo es in Flammen aufging. Sie flohen zum Bezirk Paisley und stellten sich dort unter den Schutz des Bürgermeisters; von diesem Augenblick an hatten ihre Schwierigkeiten ein Ende.

Im Jahre 1727 konnte sich Paisley glücklich schätzen, einen ungewöhnlich aufgeklärten Philantropisten namens Sir Hector Coats als Bürgermeister sein Eigen nennen zu können (nicht verwandt oder verschwägert mit dem berühmten Zwirnproduzenten des nächsten Jahrhunderts). Er war von McMenamys Geschichte tief gerührt und von der Hingabe an seine Arbeit sehr beeindruckt. Er bat Vage, die Aufsicht über den Bau einer großen Strickfabrik zu übernehmen, in der wenigstens zwanzig Wippen-Strickstühle aufgestellt werden sollten. Außerdem dürften Vage und seine Oma an einem der Stühle arbeiten. Vierzehn Stunden täglich, sechs Tage die Woche, verbrachte Vage die nächsten zehn Jahre auf- und abschwingend; ihm gegenüber, am anderen Ende des Wippbalkens, saß die Frau die ihn ernährt und inspiriert hatte. Unglücklicherweise konnte er den wissenschaftlichen Erfindungen keine Zeit mehr widmen, da seine einzigen freien Tage Sonntage waren und Sir Hector als guter Christ mit äußerster Strenge gegen Arbeiter vorging, die die Gesetze des Sabbats brachen. Im Alter von dreißig Jahren fiel Vage McMenamy während eines Schwindelanfalls von der Wippe, und er sollte sich nie wieder erheben. Seine Oma überlebte ihn erstaunlicherweise um fast zweiundzwanzig Jahre und rackerte sich bis zuletzt auf der Maschine ab, die nach ihr benannt worden war. Ihre Vergangenheit im Schaukelstuhl hatte sie zweifellos für dieses Lebensende abgehärtet, dennoch muß sie eine bemerkenswerte Frau gewesen sein.

Dreißig ist kein besonders hohes Alter, und Vages Leistungen fallen alle in die sieben Jahre zwischen dem zwölften und dem neunzehnten Lebensjahr. In dieser Zeit erfand er das Paddelboot und das eiserne Schiff, verpaßte der Hüttenstrickindustrie den Todesstoß und legte die Grundlagen für den schottischen Textilhandel. Als Arkwright, Cartwright, Wainwright und Watt ihre Maschinen bauten, benutzte jeder von ihnen McMenamys Kurbelarm. Er war wahrlich der lange Arm der Revolution.

Übersetzung: Bernhard Robben

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