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Der große Entwurf

Alain Touraine, der große Erforscher der sozialen Bewegungen in Frankreich, zum Kampf um die gesellschaftliche Zukunft 200 Jahre nach der Revolution  ■ E S S A Y

Das öffentliche Leben ist entleert, seine Reden sind inhaltsarm. Wo ist heute, da das Land sich der Erinnerung an seine Revolution zuwendet, Frankreichs großer Entwurf für das kommende Jahrhundert? Der Premierminister antwortet, das sei nicht die Sache der Regierung. Wenn man der zivilen Gesellschaft eine allgemeine politische Mobilisierung auferlegte, so wäre das noch lange keine Ermutigung zur Selbsttätigkeit. Er hat recht. Und sein Schweigen sollte als Appell begriffen werden: Ein Appell an uns, die an der die wir uns auf der Seite der Gesellschaft, oder besser: der sozialen Akteure verorten, und das auszusprechen, was der Mehrheit der Bevölkerung als erstrebenswertes Ziel oder als zu vermeidende Gefahr erscheint. Laßt uns auf diesen Aufruf hören, denn die gegenwärtige Orientierungslosigkeit rührt zu einem Großteil aus unserer Schwierigkeit, von der einen Denkungsart und Redeweise zu einer neuen überzugehen.

Vor 200 Jahren bestand die große Aufgabe darin, die Privilegien einiger weniger durch die Rechte aller Bürger zu ersetzen und an Stelle des Ancien Regime die Nation zu begründen. Vor 100 Jahren ging es darum, die Rechte der Arbeiter gegenüber den Unternehmern auf gesetzlichem und Verhandlungswege durchzusetzen und durch gewerkschaftliche Aktion voranzutreiben. In beiden Fällen handelte es sich darum, den absoluten Einfluß von Geburt und Geld umzukehren und der größtmöglichen Mehrheit eine immer größere Teilhabe in allen Bereichen des sozialen Lebens zu gewährleisten. Nachdem wir das Recht des Bürgers, dann das des Arbeiters verteidigt haben, welches Recht wollen wir heute geltend machen? Es geht heute um das Recht jedes einzelnen, sein persönliches Leben zu bestimmen und zu gestalten.

Nichts erregt unsere Leidenschaften mehr als Diskussionen über unsere Haltung zum Leben. Der Vorgang der Geburt, Empfängnisverhütung, Abtreibung, die Krankenversorgung und -pflege, Organtransplantationen, medizinische Experimente an Kranken, die Frage der Sterbehilfe. Über unser Recht auf ein Leben, das wir selbst als ein menschenwürdiges bezeichnen können hinaus, treten wir, wenn wir über Menschenrechte reden, für das Recht eines jeden einzelnen ein, dem, was seine persönliche Freiheit einschränkt, zu entkommen: Willkür, Hunger, religiöse und kulturelle Intoleranz. Wir lehnen uns nicht mehr auf gegen die Privilegien der Geburt und das Gewicht der Traditionen, denn unsere moderne Welt hat dieses Erbe weitgehend abgeschafft.

Gleichzeitig hat sie ihre Schöpfungs-, Kontroll- und Veränderungsmacht vervielfacht: Gegen unsere eigenen Werke wenden wir uns, wenn sie sich gegen uns wenden - wie schon im letzten Jahrhundert die Maschine sich gegen den Arbeiter gewendet hat, wendet sich heute Großstadt gegen die Bewohner, die Bürokratie gegen die Verwalteten, die Produktion gegen die Ökösphäre. Wir fordern nicht mehr eine vermehrte Teilhabe, sondern mehr Schutz vor der grenzenlosen Macht des Produktions-, Verwaltungs- und Kommunikationsapparates.

Ehernes Gehäuse

Die Verteidigung des Individuums ist lange Zeit ein Thema der Rechten gewesen, gegenüber einer Linken, die sich als kollektivistisch bezeichnete. Heute ist es umgekehrt. Es sind die Konservativen, die den Individuen die Gesetze des Marktes, des Wandels und der Macht aufzwingen, während sich die stärksten Protestbewegungen erheben zur Verteidigung von Dissidenten, Boat-people, wohnungslosen Arbeitslosen, unterdrückten Minderheiten und von ihren Eltern getrennten Kindern. Liberalismus wie Sozialismus sind heute zweischneidige Begriffe: Auf der einen Seite verteidigen Liberale den Markt gegen die Idee der sozialen Gerechtigkeit, andere aber die individuellen und kollektiven Freiheitsrechte gegen die herrschenden Apparate. Die Sozialisten verteidigen die Rechte der benachteiligten Schichten, aber das Banner des Sozialismus weht über den Regimentern, die die Hälfte Europas unter ihrem Stiefel haben.

Mindestens zwei Jahrhunderte lang haben die einflußreichsten Intellektuellen proklamiert, allein die Wissenschaft befreie von Irrationalem und Willkür. Die Moderne war gleichbedeutend mit Rationalisierung, und jede Berufung auf den Einzelnen oder die Person sei reaktionär. So trugen die Propheten des Fortschritts dazu bei, uns in dem, was Max Weber das „eherne Gehäuse einer durchrationalisierten Welt“ genannt hat, einzusperren. Wir einzusperren.

Wir müssen unsere Marschrichtung ändern und dem Recht jedes Einzelnen, sein persönliches Leben zu bestimmen und zu gestalten, ein zentrales Gewicht geben gegen die größer werdende Macht der Apparate, die uns in bloße Masse oder Sozialklientel verwandeln. Aber kaum haben wir diesen Grundsatz ausgesprochen, entdecken wir darin eine unerwartete Konsequenz. Das Individuum widersteht dem Druck der Macht und des Elends nicht aus eigener Kraft. Es beruft sich auf seine Pläne, aber auch auf seine Erinnerung, auf seine Vergangenheit, auf Gemeinschaft, Riten und Mythen, auf tiefe Überzeugungen. Diejenigen, die sich den unmenschlichsten Zwängen widersetzten, haben dies nur geschafft, indem sie sich einer Organisation angeschlossen haben, indem sie sich auf einen Glauben stützten - sei er nun religiös oder nicht. Überall in einer von Macht und Reichtum beherrschten Welt lebt als Kraft der Verteidigung das Bewußtsein von Zugehörigkeit wieder auf: Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Kirchengemeinde, einer bestimmten Lebensform oder einer Familie. Muß man also zu dem traurigen Schluß kommen, daß das Individuum nur ein Schatten ist, sich verflüchtigend irgendwo zwischen Propaganda und Werbung und dem erstickenden Druck von Nachbarn und Kirchengemeinden?

Keinesfalls, denn es ist möglich, sich zu wehren; einmal unter Verweis auf die individuelle Wahlfreiheit gegen die Apparate, zum anderen gegen die Gemeinschaften, indem man dem Geist der Moderne und der kritischen Kraft der Vernunft die Treue hält. Kurz, der Appell an die Person, an den einzelnen, ist die größte Bestätigung und Demonstration in einer Gesellschaft, deren Macht häufig erdrückend ist. Nicht nur, weil jene neue soziale Forderung noch keinen politischen Ausdruck gefunden hat, dringt die Sprache der Moral ins öffentliche Leben ein; auch, weil wir ins Jahrhundert der Ethik eingetreten sind - nachdem wir im Jahrhundert der Politik und dann in dem des Ökonomischen gelebt haben.

Widerstand

Die politische Klasse wird sich zögernd an diesen Wandel anpassen. Im vergangenen Jahrhundert haben die Erben der Französischen Revolution - die mittlerweile verbürgerlicht waren - mehrals einmal mit Waffengewalt dem Aufstieg der Arbeiterbewegung Widerstand geleistet. Heute sind jene, die im Namen einer im Lauf der Geschichte verschwundenen Arbeiterklasse sprechen, gemeinhin Menschen des Apparates geworden, manchmal die Aufseher in Konzentrationslagern, in der westlichen Welt häufiger Karrieristen und Bürokraten. Sie mißtrauen jedem Appell an die Rechte des Individuums. Glücklicherweise tauchen neue Verteidiger der Menschenrechte auf der Bildfläche auf, Figuren des Widerstands gegen politische Macht und soziale Armut, Symbole der Freiheit eher als Begründer einer neuen Macht: Walesa, Sacharow, der Abe Pierre, Mutter Teresa, werden heute hoch verehrt, weil sie am mutigsten an die Würde jedes einzelnen menschlichen Wesens appellieren. Sie stellen das kollektive Handeln in den Dienst des einzelnen Menschen und des Rechtes eines jeden einzelnen Menschen, sein Leben im Einklang mit dem Bild, das er von sich selbst hat, zu führen. Es wird der Tag kommen, an dem unsere Demokratie repräsentativer sein wird. Die sozialen Bewegungen werden stark und organisiert genug sein, um ihre Forderungen den gewählten politischen Vertretern aufzuzwingen. Am Ende dieses Jahrhunderts ist es das wichtigste, das soziale Leben neu zu beleben, die Herausbildung neuer sozialer Akteure zu beschleunigen zuerst auf der Ebene der öffentlichen Meinung, dann in den politischen Institutionen. Ein Kampf, geführt im Namen des Rechts eines jeden einzelnen, möglichst uneingeschränkt über sein Leben zu bestimmen, selbständig Gestalter seines eigenen Lebens zu sein, und nicht nur als Öffentlichkeit, Klientel oder Verwaltungsobjekt zu existieren.

Dieses Essay erschien zuerst in der französischen Zeitung 'Le Monde‘. Übersetzung: Bursig/Tornow

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