: Karawane des Friedens durch Europas Haus
Zwölf Theatergruppen aus neun europäischen Ländern machen bis zum 30.Juli in West-Berlin Station / Ein halbes Jahr lang ziehen sie gemeinsam durch Europa: Kiew, Moskau, Leningrad, Warschau, Prag, Kopenhagen, Paris, Blois und Bologna ■ Aus Berlin Claudia Wahjudi
Eine Indio-Familie gerät in Streit, bis der erste tot darniederliegt. Zu den schrägen Tönen des Orchesters erhebt sich ein nervenzerreißendes Wehgeschrei. Grund des Streits ist nicht etwa die Perle, die einer von ihnen im Meer fand und die den am Rande des Existenzminimums Lebenden eine Zukunft ohne Sorgen vorgaukelt, sondern der Druck, den die korrupten Nachfahren der Kolonialherren auf die Familie ausüben. Sie stellen dem Kleinod mit allen Mitteln nach. Am Ende haben nur zwei aus dem Familienverband überlebt. Der kostbare Muschelinhalt landet wieder im Meer.
Mit John Steinbecks The Pearl eröffnete das „Footsbarn Travelling Theatre“ am Freitag abend die „Mir Karawane“, das internationale Festival freier Theatergruppen, das bis zum 30.Juli seine Zelte in West-Berlin zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor aufgeschlagen hat. Mit einer Mischung aus Pantomime, Clownerien, Zirkus und Musik macht das Ensemble Volkstheater im klassischen Sinn, das - knallbunt und bizarr - sofort ergreift und sich ohne jede Vorkenntnisse erschließen läßt.
Auf der Straße für alle zu spielen und gemeinsam ein halbes Jahr zusammenzuleben und zu arbeiten - das sind die Hauptanliegen der über 150 SchauspielerInnen und MusikerInnen der zwölf Gruppen aus Polen, der UdSSR, der CSSR, Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, den Niederlanden und aus West-Berlin, die mit 20 Stücken und mehr als 1.000 Einzelaufführungen durch acht europäische Länder ziehen. Am 15.Mai startete die Friedens-Karawane in Kiew, zog durch Moskau und Leningrad über Warschau und Prag nach West-Berlin. Von hier aus werden die Gruppen nach Kopenhagen, Paris, Blois und Bologna weiterfahren.
Beeindruckende Zahlen sind aber nicht der Zweck des Festivals. Im Jubiläumsjahr der Französischen Revolution wollten die KünstlerInnen schneller sein als die Politiker mit den großen Reden vom „Europäischen Haus“. Es muß auch kein Haus sein. Es genügen Zelte, die sich leicht über die Grenzen bewegen lassen und für alle und alles offenstehen, für landesspezifische oder grenzübergreifende Zivilisationskritik oder einfach für Spaß an gutem Theater.
Die Frauen des spanischen „Circ Perillos“ zum Beispiel sperren während einer Luftakrobatik-Show ihre Machos in hängende Käfige, das Clown-Theater „Licedei“ wird am 19.Juli in einer einmaligen Straßenaufführung sein Publikum mit den Ausmaßen und Auswirkungen einer Katastrophe konfrontieren das Stück entstand nach dem Reaktorbrand in Tschernobyl -, und die beiden polnischen Ensembles setzen sich mit politischer Kontrolle und der Verfolgung und Verbannung der Kunst auseinander. Für das „Teatr Osmego Dnia“ aus Poznan, das in den siebziger Jahren am Anfang einer Bewegung des oppositionellen Theaters stand und dessen Mitglieder Polen verlassen mußten, war es im Rahmen der Karawane zum ersten Mal wieder möglich, in Polen aufzutreten.
Die Idee einer Karawane dieser Art wurde vor drei Jahren während eines Festivals in Polen geboren. Aus den Plänen für eine Veranstaltung in Leningrad, West-Berlin und Amsterdam wuchs die gesamte Reiseroute. Amsterdam sagte aus finanziellen Gründen ab, und auch das Angebot der Karawane, in Ost-Berlin zu spielen, wurde dort wegen Finanz- und Bettenmangels abgelehnt. Die ökonomische Planung - das Gesamtbudget allein für die westlichen Theatergruppen und die Organisation des Festivals im Westen wurde mit 14.680.000 Francs veranschlagt - mußte auf Grund der verschiedenen Wirtschaftssysteme und Organisationsformen zwischen den Theatergruppen aus dem Osten und dem Westen aufgeteilt werden.
In West-Berlin, wo sich die Klassenlotterie mit 60 Prozent an den Unkosten beteiligt, haben die Kommunarden der UFA -Fabrik die Betreuung der Wandertruppe übernommen. Geübt sind die BewohnerInnen des selbstverwalteten Kulturzentrums in solchen Dingen längst - durch das „Trans-Europe -Festival“, das sie alljährlich veranstalten. Zudem war im letzten Jahr auch das „Footsbarn Travelling Theatre“ geladen. Auf dem Kreuzberger Mariannenplatz machte das Ensemble damals mit einem Macbeth-Spektakel und der Aufführung Bulgakows Der Meister und Margarita Furore.
Verwunderlich war es deshalb, daß das Zelt der Briten am Abend der Premiere gerade einmal zu drei Vierteln besetzt war. Umso verwunderlicher, weil die UFA-Fabrik einen immensen Werbeaufwand betrieben hatte. Zwar erhielt die Gruppe begeisterten Beifall, vor dem Zelt aber versickerte die freudige Stimmung sofort im Nieselregen. Vor den Imbißständen für alternativ Ernährungsbewußte froren ein paar Hungrige, und amnesty international hatte schon aufgegeben, Unterschriften für Protestnoten an chinesische Provinzregierungen zu sammeln. Verglichen mit den Fotos aus der Sowjetunion, wo angeblich 2.000 Menschen zu den Samba -Rhythmen der UFA-Leute getanzt haben sollen, wirkte der Empfang, der dem Moskauer Ensemble „Svoya Igra“ bereitet wurde, geradezu beschämend: Zu der virtuosen Mischung von Volksweisen aus allen möglichen Ländern bewegten allenfalls 80 Noch-Anwesende müde ihre Regenschirme.
Der zweite Abend wirkte schon etwas festlicher. Da hielt Hanns Kirchner, seines Amtes Staatssekretär bei der Senatorin für kulturelle Angelegenheiten, in einem kleinen, völlig überfüllten Zelt (das große war zu breit für die Straße des 17.Juni) eine Rede, die bei den Berliner Dörfern 1789 begann und beim Umweltschutz endete, und die noch einmal bekräftigte, daß die neue Berliner Regierung nie etwas gegen das selbstorganisierte Fest gehabt und auch den Verkehr ordentlich umgeleitet hätte. Nach dem Senatssegen bewiesen die Clowns von „Licedei“, daß Charme und Schadenfreude international sind und daß vom Streit bis zum zärtlichen Gezwitscher am Telefon der Tonfall überall derselbe ist. Kirchners Hoffnung auf viel „Freude und Spaß“ gingen in einem Hagel bunter Bälle und riesiger Papierkugeln, lustiger und wilder als in jedem Friedenscamp, in Erfüllung. Und auch vor der Abendkasse des „Footsbarn Travelling Theatre“ hatte sich trotz anhaltenden Regens eine längere Schlange gebildet als am Vorabend.
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