: Gorbatschow: Kumpel sollen arbeiten
■ Trotz eines Appells des Staats- und Parteichefs haben sich die Streiks vorerst noch ausgeweitet / Kommission soll vermitteln / Presselob für „mustergültige Disziplin“ der Streikenden / Größerer Handlungsspielraum für Betriebe zugesichert / Streiks auch in Georgien
Moskau (dpa/taz) - Michail Gorbatschow hat am Sonntag in einem Aufruf an die streikenden Bergleute in Westsibirien appelliert, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Dies wurde erst gestern öffentlich bekannt. Am Montag befanden sich jedoch mehr Arbeiter im Ausstand als zuvor. Ministerpräsident Ryschkow, der Gorbatschows Appell mitunterzeichnete, sprach vor dem Obersten Sowjet von 110.000 Streikenden. Mittlerweile soll der Protest alle Städte des Kuznezker Kohlereviers ergriffen haben. Die 'Prawda‘ sprach am Montag von einer „äußerst angespannten“ Lage.
In dem Aufruf wird den Streikenden mitgeteilt, eine Regierungskommission werde in das Krisengebiet reisen, um mit den Streikenden zu verhandeln. Ihr gehören das Politbüromitglied Nikolai Sljunkow, ein ehemaliger Mitarbeiter der staatlichen Planungsbehörde (Gosplan) und Protege Ryschkows, der Vizepremier Lew Woronin und Gewerkschaftschef Stepan Schalajew an. Die Streikenden hatten allerdings verlangt, mit Gorbatschow und Ryschkow persönlich zu verhandeln. Anscheinend glaubt man in Moskau, die Auseinandersetzungen noch ohne den Einsatz der höchsten Repräsentanten schlichten zu können.
Als ein verspäteter Befriedungsversuch kann wohl auch der Hinweis der 'Prawda‘ gewertet werden, die von den Arbeitern in Meschduretschensk am Donnerstag mit dem Kohleminister ausgehandelten Verbesserungen hätten Gültigkeit für das gesamte Kohlerevier. Die Zugeständnisse sehen neben höheren Löhnen und besserer Lebensmittelversorgung auch Veränderung des wirtschaftlichen Status der Betriebe vor. Demnach sollen sie größeren wirtschaftlichen Handlungsspielraum erhalten. Dies war eine zentrale Forderung der Arbeiter. Bis zu 90 Prozent der für diese Betriebe wichtigen Entscheidungen würden bisher in Moskau gefällt, meinte ein Kombinatsdirektor.
Auffallend sind die zahlreichen Hinweise in der sowjetischen Presse, die die „mustergültige Disziplin“ betreffen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder betont, daß lokale Partei- und Gewerkschaftsführer sich dem Streik angeschlossen haben und in den Streikkomitees mitwirken. Offenkundig soll der Eindruck vermieden werden, spontane Streikkomitees und Provokateure könnten die Streiks in Fortsetzung auf Seite 2
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ihrem Interesse umfunktionieren. Die Kriminalität im Streikgebiet sei drastisch zurückgegangen, schrieb die 'Prawda‘. Ein Aufruf zum Generalstreik sei von den Bergleuten nicht befolgt worden. Ebenso sei die Forderung der Kumpel von Prokopjewsk abgelehnt worden, die Kohlelieferungen an die Hüttenindustrie einzustellen, die teilweise stillgelegt werden müßten, sollte der Kohlenachschub tatsächlich aufgehalten werden.
Streiks gab es auch im Gefolge der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Georgiern und Abchasen in den Kaukasusrepubliken Aser
baidschan und Georgien, die mittlerweile ihr zwölftes Todesopfer forderten. Nach Angaben des Außenministeriums in Tiflis haben sich die Unruhen auf das gesamte Staatsgebiet Abchasiens ausgeweitet. Fluchtartig sollen Urlauber die autonome Republik am Schwarzen Meer verlassen. Die Nachrichtenagentur 'Tass‘ meldete, die Situation auf Bahnhof und Flughafen der Stadt Suchumi habe sich kompliziert, es gebe auch Schwierigkeiten mit der Lebenmittelversorgung. Der Konflikt zwischen moslemischen Abchasiern und christlichen Georgiern hatte sich an der Frage entzündet, inwieweit die Abchasier bei einer in Suchumi geplanten Universitätsgründung von den Georgiern berücksichtigt werden wür
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