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Die Angst des Programmierers vor dem Absturz

■ Ein Sammelband über „Angstlust am Computer“

Ein bedeutungsvolles Reich der Erfahrung sozusagen jenseits der Erfahrung„; ein solches - so bei aller Heterogenität der Aufsätze der Grundkonsens der Autoren dieses Sammelbandes eröffne der Computer seinem Anwender. G. Johnsons griffige Formulierung schließt denn auch die Zugangsweise der meisten Beiträge auf: das Erkenntnisinteresse ist ein psychoanalytisches, d.h. eine zweite Ebene unterhalb des Bewußtseins, die Frage nach der unbewußten Bedeutung des Computers, wird vornehmlich anvisiert. Emotion und Technik könnte man die Hauptausrichtung des Bandes ebenfalls nennen, wobei vor allem ein Gefühl - von starker Ambivalenz geprägt

-im Mittelpunkt der Analyse steht: das der „Angstlust“. Die seltsame Wortschöpfung verdankt sich dem kaum adäquat wiederzugebenden, geschweige denn übersetzbaren englischen (und nur dort vorhandenen) „thrill“, auf dem Michael Balint 1958 seine Lehre von den beiden Typen - Philobat und Oknophiler - aufbaute. Besteht die Welt des Oknophilen aus verläßlichen und wohlwollenden Objekten, zwischen denen sich „furchterregende Leerräume“ auftun, so sieht im Gegensatz dazu der Philobat nur „freundliche Weiten“ und erlebt gerade die Objekte als gefährlich und unvorhersehbar. Das diametral entgegengesetzte Empfinden der beiden Objektbeziehungstypen verdeutlicht Balint am Beispiel des „Nervenkitzels“ (thrill) auf Jahrmärkten. Können einige das schwindelerregende Angebot der Schaukeln und Karussells annehmen und (angst)lustvoll genießen, so reagieren andere auf den Verlust des Gleichgewichts und festen Bodens abwehrend mit Übelkeit vor Angst. Derjenige, der Wagnis und Kitzel in der luftigen Weite zu genießen weiß, heißt somit in Anlehnung an „Akrobat“ (wörtlich: der in die Höhe Springende) „Philobat“.

Auf den ersten Blick verblüffend, ja geradezu paradox und widersprüchlich erscheint nun die Charakterisierung der Computeranwender und Programmierer als Philobaten. Sitzen jene nicht regungs- und emotionslos vor dem Bildschirm, „oknophil“ an die Tastatur geklammert und haben die Füße fest auf dem ganz und gar nicht schwankenden Boden? Und woher kommen die „thrills“?? Dagegen scheinen Beschreibungen und Analysen, die dieser Phänomenologie nicht widersprechen, plausibler zu sein: süchtige Programmierer ziehen die Interaktion mit dem Gerät der belebten Umwelt vor, sind introvertiert, erscheinen kontaktgestört, ihre sozialen und emotionalen Fähigkeiten verkümmern; die Sinne werden taub, und Sinnlichkeit scheint das letzte, was einem zu diesem Bild einfällt. So meint denn auch Johnsons, daß von den Individuen diese „Abkoppelung vom Triebhaften“ sehnsuchtsvoll angestrebt würde. Ziel sei, „das ungemein verfängliche Angebot dieser Technik an den Menschen, das aus der in Aussicht gestellten Möglichkeit hervorgeht, die 'inneren Zustände‘ in bislang unbekanntem Maße zu steuern“, im Sinne einer Flucht ins geregelt Affektlose zu nutzen. Ein - wie Theweleit einmal schrieb - „beherrschtes 'Triebleben‘, ohne Gefühl, machtvoll (...) perfekt sein“ wird versucht. Hauptintention: „Bei innerlichen Explosionen ganz bleiben“. Also hier - quasi hinter der Fassade von scheinbarer Vernunft und Zweckrationalität - verbergen sich Gefühle, brodelnde Emotionen, und mit Hilfe von Balints Regressionsmodell kann die Hauptangst des Programmierers kenntlich gemacht werden: Gefürchtet wird der „ABSTURZ“. Mit dem „crash“ des Programms ist zugleich der Erlebnishorizont des Programmierers impliziert, der somit auch gleich mit abstürzt - offenbar aus zuvor erklommener großer Höhe. Nach Johnsons stürzt er ab „wie ein Bergsteiger nach einem Schwindelanfall“. Folgt man dieser Interpretation, so scheitert dessen Höhenflug an der Wiederkehr des verdrängten Triebhaften, das der Programmierer ja aus seinem artifiziellen Erfahrungsreich zu bannen bestrebt war.

Zweifel und Kritik an dieser Deutung melden allerdings andere Beiträge dieses Bandes an. Insbesondere Huebner/Krafft/Ortmann zeigen, daß diese moderne Form des Computer-Philobaten frappante Ähnlichkeiten mit der Bergsteigerei Reinhold Messners besitzt. Zusammen mit einer Analyse der von Tracy Kidder geschilderten Zustände und Gefühle bei der Konzeption der „Seele einer neuen Maschine“ und Winnicotts erhellender Darstellung der „fear of breakdown“ arbeiten Huebner et al. den circulus vitiosus heraus, in den diese Individuen geraten. Dieser besteht darin, „daß man sich in die Technik flüchtet, um sich von 'all den Problemen‘ abzuwenden, und das immer wieder muß, weil man in der Welt der Technik keine Erfahrungen im Umgang mit diesen Problemen machen konnte“. Sie sind also dazu verdammt, in dem Reich der Erfahrung jenseits der Erfahrung, der Welt der schönen Symbole, ihr Trennungstrauma zu vermeiden und es zugleich zu inszenieren - wieder und wieder.

Die meisten Beiträge betrachten die Beziehung zum Computer aus psychoanalytischer Perspektive bzw. legen psychoanalytische Konzepte (Balint, Winnicott, Mahler) an, um die Computerfaszination anhand der Lebensgeschichte (Beland und Schumacher mit einer sehr schönen Interpretation zu A. Turing), der Individuation (Becker/Brauner) oder als Form eines elektronischen Doppelgängertums (Huebner) zu verstehen zu suchen. Immer wieder tauchen dabei Beziehungsfiguren auf, die die Psychoanalyse „narzißtisch“ zu nennen gewohnt ist und die auf die sehr frühe, am Anfang allen Erlebens stehende, symbiotische Mutter-Kind-Einheit verweisen. Einerseits scheint es so zu sein, daß der Computer hinreichend Beziehungsmöglichkeiten anbietet, die vom Erfüllen der Aufgabe einer „genügend guten Mutter“ bis zur vorübergehenden Entlastung von Objektbeziehungen reichen. Beland meint sogar, daß es sein könne, daß „der berufliche Umgang mit dem Computer der normalste und entlastendste Lebensbezirk eines sonst schwerkranken Menschen ist“. Auf der anderen Seite kann die Maschine aber auch zur „bösen Mutter“ werden, die „den Menschen in ein monadisches Abseits“ treibt (Huebner). Konsequenterweise und dadurch die individual-psychologischen Ansätze komplettierend, bietet der Band auch zwei Beiträge mit einmal - psychohistorischen Überlegungen zu gesellschaftlichen Bildern von Maschinen und Computern“ (Kleinspehn) und - zum anderen - „Wunschbilder und Alpträume vom Computer“ (Becker-Schmidt). Anders‘ „Dialektik der Technik“ aufnehmend, relativiert der letztgenannte Beitrag die verbreitete Vorstellung von Technik als bloß bestimmt durch Selbsterhaltung und stellt demgegenüber die ihr inhärenten Aggressionspotentiale stärker heraus. Abschließend meint die Autorin, daß die Träume, die die Menschheit noch nicht zu Ende geträumt hat (Benjamin), nur dann neu aufgegriffen und weitergeführt werden, wenn die „kulturellen Zeitbilder und die unbewußten Ängste und Wünsche individueller und kollektiver Art“, die in die Technologieentwicklung eingehen, angeeignet und bewußt gemacht werden. Technisierung der Psyche und Enthistorisierung des Geistes sind die bislang zu sehr vernachlässigten Probleme, die durch dieses Buch wieder auf klare und hoffentlich fruchtbare Weise in Erinnerung gerufen werden.

Ralph J. Butzer

„Computer und Psyche. Angstlust am Computer“. Hg. von Alexander Krafft und Günther Ortmann. Frankfurt/Main 1988 (Nexus), 331 Seiten, kt., 22 DM

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