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Rivettes drei Kreise

■ Der französische Philosoph über Jacques Rivettes Film „Die Viererbande“

Gilles Deleuze

Es erscheint ein erster Kreis (oder ein Kreisausschnitt). Wir nennen ihn A, weil er als erster erscheint und weil er während des ganzen Filmes sichtbar bleibt. Es ist ein ehemaliges Theater, heute eine Schauspielschule, in der junge Mädchen unter Anleitung von Constance (Bulle Ogier) Rollen proben - Marivaux, Racine, Corneille. Die Schülerinnen müssen lernen, das richtige Gefühl - Zorn, Liebe, Verzweiflung - mit Worten auszudrücken, die nicht die eigenen sind, sondern die eines Autors, und das ist schwierig. Das ist die erste Bedeutung von Spielen: die Rollen.

Eine von ihnen, Cecile, hat vier Mädchen ein Häuschen am Stadtrand überlassen: Sie lebt jetzt woanders mit dem Mann, den sie liebt. Die vier Mädchen wohnen in dem Haus zusammen. Sie erleben dort, was ihnen von ihren Rollen haften geblieben ist, aber auch ihre jeweiligen abendlichen Stimmungen und Haltungen, die Folgen ihrer privaten Liebschaften, von denen man nur durch Anspielungen erfährt, ihre Einstellungen zueinander. Es ist, als würden sie von der Wand des Theaters zurückprallen, um im Haus so etwas wie ein gemeinsames Leben zu führen; sie bringen darin Fragmente aus ihren Rollen ein, aber in ihren eigenen Worten, so wie es ihrem eigenen Leben entspricht, und jede betreibt ihre eigene Sache. An die Stelle einer vorgeschriebenen Abfolge von Rollen tritt jetzt eher eine gewagte Verknüpfung von Einstellungen und Haltungen, die zu mehreren Geschichten gleichzeitig gehören, und diese decken sich nicht. Hier liegt die zweite Bedeutung von Spielen: Die miteinander verschlungenen Einstellungen und Haltungen des Alltags. Es geht um die Gruppe der vier Mädchen, aber zugleich um jede einzelne, um die komischen und die tragischen Momente, die deprimierenden und die überschwenglichen, die linkischen und die geschickten, vor allem jedoch um die solaren und die lunaren Gestalten, die entweder der Sonne oder dem Mond zugeneigten, von denen Rivette immer wieder inspiriert worden ist. Hier liegt ein zweiter Kreis, B, im Innern des ersten, von dem er abhängig ist und dessen Wirkungen er bündelt und auf seine Art neu anordnet. Er entfernt sich vom Theater nur, um immer wieder darauf zurückzukommen.

Die vier Mädchen werden von einem Mann verfolgt, der nicht einzuordnen ist - Gangster, Spion, Polizist - und der den Geliebten von Cecile sucht (zweifellos ein Gauner). Geht es um falsche Ausweise, gestohlene Bilder, Waffenhandel, einen Justizskandal? Er sucht die Schlüssel eines Tresors. Der Reihe nach versucht er, die Mädchen zu verführen, und erreicht, daß eine ihn liebt. Die drei anderen versuchen ihn zu töten, die eine theatralisch, die andere kalt, die dritte impulsiv. Der dritten gelingt es, mit Stockschlägen. Schönheit der drei Auftritte, große Momente von Rivette. Eine dritte Bedeutung von Spielen: die Masken einer politisch-kriminellen Verschwörung, die uns über den Kopf wächst und in die alle verwickelt sind, eine Art Weltkomplott. Das ist ein dritter Kreis, C, der mit den beiden anderen in einer komplizierten Verbindung steht: Er verlängert den zweiten, ist von diesem kaum zu unterscheiden, da er die Haltung der Mädchen zunehmend polarisiert, ihnen ein gemeinsames Maß gibt und sie verzaubert. Aber er erstreckt sich zugleich auf das ganze Theater, verdeckt es, er vereinigt vielleicht alle Stücke eines unendlichen Repertoires. Constance, die Dramaturgin, spielt offenbar von Anfang an eine wichtige Rolle in der Verschwörung. (Gibt es nicht in ihrem Leben ein Loch von mehreren Jahren? Bewohnt sie nicht das Theater, das sie niemals verläßt und in dem sie den Bösewicht von Cecile verbirgt, der vielleicht ihr eigener Liebhaber ist?) Und die Mädchen selber: Die eine hat einen amerikanischen Freund, der genauso heißt wie der Polizist, die andere trägt den Namen ihrer Schwester, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist, und Lucia, die Portugiesin, die Mondsüchtige par excellence, hat auf Anhieb die Schlüssel gefunden und besitzt ein Bild, das vielleicht echt ist... Kurz, die drei Kreise durchdringen sich, einer treibt den anderen hervor, wirken aufeinander ein und ordnen sich, ohne jemals ihr Rätsel preiszugeben.

Wir spielen Stücke, die wir noch nicht kennen (unsere Rollen). Wir schlüpfen in Charaktere, die wir nicht beherrschen (unsere Einstellungen und Haltungen). Wir haben an einer Verschwörung teil, von der wir überhaupt nichts wissen (unsere Masken). Rivette hat es verstanden, eine bestimmte Sichtweise der Welt zu zeigen. Er braucht das Theater, damit es das Kino gibt: Die Einstellungen und Haltungen der jungen Mädchen bilden eine Kinotheatralik, die sich beständig an der Theatralik des Theaters mißt, der sie zugleich trotzt, um sich von ihr zu unterscheiden. Und wenn all die politischen, juristischen und kriminellen Verschwörungen, die über uns schweben, bereits zeigen können, daß die wirkliche Welt zu einem schrecklichen Film geworden ist, dann ist es Sache des Kinos, uns ein wenig von der Wirklichkeit zurückzuerstatten, ein Stück von der Welt. Ein Kino, das seine Theatralität der des Theaters entgegensetzt, seine Wirklichkeit der einer unwirklich gewordenen Welt: Rivette hat das unternommen, um das Kino vor dem Theater zu retten und vor den Verschwörungen, die es zerstörten.

Wenn die drei Kreise miteinander in Verbindung kommen, dann an Orten, die spezifisch sind für Rivette: so die Rückseite des Theaters oder das Haus der Mädchen. Das sind Orte, an denen die „Natur“ zwar nicht lebt, aber mit einer seltsamen Anmut überlebt. Die Natur überlebt am Stadtrand, in Gebieten, die noch nicht bebaut sind, oder mitten in der Stadt, in Winkeln, die noch ländlich geblieben sind oder in Höfen, die von außen kaum zu sehen sind. Die Modezeitschriften konnten von diesen Plätzen kalte, perfekte Fotos machen, aber schon merkte niemand mehr, daß sie von Rivette kamen und daß sie von seinem Traum erfüllt waren. Dort werden Verschwörungen geschmiedet, leben Mädchen zusammen, werden Schulen eingerichtet. Und da kann der Träumer immer noch nach dem Tag und der Nacht greifen, nach Sonne und Mond, wie nach einem großen äußeren Kreis, der alle anderen beherrscht und Licht und Schatten neu verteilt. Vielleicht hat Rivette immer nur eines gefilmt: das Licht und seine Verwandlungen, bald das des Mondes, bald das der Sonne, Lucia und Constance. Es geht nicht um Personen, sondern um Kräfte. Die eine verkörpert nicht das Gute, die andere nicht das Böse, aber Rivette geht an diese Orte des Überlebens, Stadtrand oder Hinterhof, um herauszufinden, wie weit es sie noch gibt, alle beide. Das Kino von Rivette stand immer der Dichtung von Nerval nahe, als wäre Rivette von Nerval beeinflußt. Er besichtigt noch einmal die Überreste einer imaginären Ile de France, er inszeniert die neuen Filles du feu (Sammlung von Novellen von Gerard de Nerval, dt.: Töchter der Flammen

-Anm.d.Ü.), er spürt die Verschwörung eines unbestimmbaren Wahns heraufkommen. Das ist kein Einfluß - das ist das, was Rivette zum einfallsreichsten Autor des Kinos macht, zu einem seiner größten Poeten.

Aus dem Französischen von Andreas Eisenhar

Copyright: 'Cahiers du Cinema‘, Juni 1989

Der Film startet heute in Berlin.

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