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Der kriminelle Instinkt eines Tigers

Der Franzose Laurent Fignon holt sich in L'Alpe d'Huez das gelbe Trikot der Tour de France zurück  ■  Von Matti Lieske

Wenn Tradition noch etwas gilt bei der Tour de France, dann hat der Franzose Laurent Fignon (28), der sich am Mittwoch in L'Alpe d'Huez erneut in Gelb kleiden durfte, beste Chancen, die diesjährige Rundfahrt für sich zu entscheiden. Zwölfmal war der höllische Anstieg zu der 1.860 Meter hoch gelegenen Wintersportretorte bislang im Programm der Tour, in zehn Fällen fuhr derjenige, der in L'Alpe d'Huez die Führung des Gesamtklassements innehatte, später auch als Sieger durch das Ziel auf den Champs-Elysees.

Nur der Franzose Pollentier und der Spanier Pedro Delgado tanzten aus der Reihe. Pollentier wurde 1978 des Dopings überführt und disqualifiziert, Delgado konnte 1987 dem Iren Roche zwar das gelbe Trikot entreißen, schaffte es aber nicht, einen genügend großen Abstand herauszufahren. Einige Tage später holte sich Roche das begehrte Leibchen beim Zeitfahren zurück und trug es ungefährdet mit vier Sekunden Vorsprung nach Paris.

Zum erstenmal mußte die 15 Kilometer lange, durchschnittlich 8,4 Prozent steile Steigung mit ihren 21 numerierten Serpentinen im Jahre 1952 bewältigt werden. Der Italiener Fausto Coppi stürmte damals so machtvoll die zu dieser Zeit noch unbefestigte Straße hinauf, daß selbst der sonst eher nüchterne langjährige Mentor der Tour, Felix Levitan, ins sprachliche Delirium abglitt: „Er ist ein wildes Tier, in dessen Augen wir den kriminellen Instinkt eines Tigers erkennen können.“

Nicht nur Delgado, auch die anderen diesjährigen Aspiranten auf den Gesamtsieg haben ihre Erinnerungen an L'Alpe d'Huez. 1984 wehrte Fignon hier kaltblütig den letzten verzweifelten Angriff Bernard Hinaults ab und höhnte anschließend: „Ich mußte lachen über seine Attacke.“ 1986 wurden an dieser Stelle Greg LeMonds letzte Zweifel beseitigt, ob sein Teamkamerad Hinault sein Versprechen, ihm den Toursieg zu überlassen, tatsächlich halten würde. Gemeinsam rollten sie als erste über den Zielstrich, LeMond gewann die Tour.

Der einsame Hase

In diesem Jahr kann sich der amerikanische Rekonvaleszent nicht auf einen solch mächtigen Teamgefährten wie Hinault stützen. Seinen zwei Jahre zurückliegenden Unfall bei der Hasenjagd, als ihn eine Schrotladung aus der Flinte seines Schwagers ereilte, hat er bestens verkraftet, seine im Feld verbleibenden Mannschaftskameraden haben jedoch nicht das Format, den Spitzenfahrern folgen zu können, schon gar nicht in den Bergen. Wer keine Freunde hat, sucht sich welche, ob die ihn nun wollen oder nicht. LeMond erwählte Fignon, weil der seiner Meinung nach die besten Aussichten auf den Sieg hatte, und wich ihm fortan nicht von der Pelle. „Hinterradlutscher“ titulierte der Franzose seinen treuen Schatten abfällig und spie Gift und Galle, weil der 28jährige Amerikaner schamlos vom Windschatten der Topleute profitierte, ohne selber allzuviel zu tun.

Dennoch wäre LeMond, der stets betonte, er habe absolut keine Chance, wahrscheinlich kaum so lange an der Spitze geblieben, wenn ihn die anderen ernstgenommen hätten. In den Pyrenäen etwa wäre es für das übermächtige Team von PDM, das mit Theunisse, Rooks, Alcala und Kelly vier Leute unter den ersten Zehn hat, ein Leichtes gewesen, LeMond abzuhängen. Großzügig ließen sie ihn jedoch mitfahren und wachten erst auf, als er beim Bergzeitfahren am letzten Sonntag sich selbst als ausgemachten Tiefstapler entlarvte und das gelbe Trikot zurückholte. Da hatte der Mann aus Colorado aber schon so viel Kraft gespart, daß er sogar das selbstmörderische Tempo mitgehen konnte, mit dem seine Kollegen L'Alpe d'Huez zu Leibe rückten.

Unter dem Jubel der niederländischen Bevölkerung, die sich vollzählig an der Strecke der 17. Etappe von Brian?on nach L'Alpe d'Huez eingefunden hatte, war es zuerst der Spitzenreiter der Bergwertung, Gert-Jan Theunisse, der 50 Kilometer vor dem Ziel allen davonrauschte und seine Alleinfahrt mit dem Etappensieg krönte. 5:10:39 Stunden benötigte er für die 161,5 Kilometer mit den Bergriesen Croix de Fer (2.067 Meter) und Galibier (2.640), das entspricht in etwa einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 31 (!) Stundenkilometern.

Hinter dem Niederländer entspann sich ein dramatischer Kampf um wertvolle Sekunden. Die Gruppe der Verfolger, in der sich anfangs alles tummelte, was Rang und Namen hat, verschärfte ständig das Tempo, bis sie langsam auseinanderbröckelte. Zuerst fiel Kelly zurück, dann Charlie Mottet, bis dahin auf dem dritten Platz der Gesamtwertung. Millar, Simon, Rooks, sie alle konnten den Anschluß nicht halten, als Delgado, Fignon und LeMond die Geschwindigkeit weiter unbarmherzig erhöhten. Rolf Gölz hatte schon lange vorher wegen seiner Darmbeschwerden aufgegeben.

Alles wartete auf den Angriff von Pedro Delgado, der ja noch fast drei Minuten gutzumachen hatte, da trat plötzlich vier Kilometer vor dem Ziel völlig überraschend Laurent Fignon, am Tag zuvor alles andere als souverän, mit seiner ganzen ungebärdigen Kraft in die Pedale. Diese Attacke im Geiste Fausto Coppis, an der Felix Levitan seine helle Freude gehabt hätte, war auch für Marino Lejarreta und Greg LeMond zuviel. Einzig Delgado konnte sich an die kriminellen Fersen des Tigers heften, holte Fignon kurz vor dem Ziel ein und gewann den prestigeträchtigen Sprint um Platz zwei. Fignon tröstete sich mit dem gelben Trikot. Um 26 Sekunden hatte er LeMond überflügelt.

Schlechte Karten für Delgado, dessen Rückstand nach der 17. Etappe 1:55 Minuten betrug, weniger, als er beim Prolog in Luxemburg dadurch eingebüßt hatte, daß er 2:40 Minuten zu spät zum Start erschienen war. „Mein Ziel ist es, mit dreißig Sekunden Vorsprung vor LeMond zum abschließenden Zeitfahren zu kommen“, hatte der 29jährige Spanier vor den Alpen gesagt, „weniger würde bedeuten, daß ich die Tour verloren habe.“ Auf den nächsten Etappen, die zwar noch über einige Berge der ersten und zweiten Kategorie führen, dafür aber recht kurz sind, wird es schwer sein, Zeit gutzumachen, und es sieht fast so aus, als ob Delgado seine Hoffnungen für dieses Jahr begraben kann.

Optimistischer darf Greg LeMond in die Zukunft blicken, vorausgesetzt, er kann die Strapazen von L'Alpe d'Huez verkraften. Sein Plan jedenfalls steht: „Wenn ich vor dem letzten Zeitfahren in Paris eine Minute Rückstand auf den Spitzenreiter hätte, würde ich es noch schaffen.“

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