Domsheide: Tod eines Gleiskörpers

■ Totaler Straßenbahnausfall lähmt auch das Zeitungsgeschäft / Ab heute auch der Schüsselkorb ohne Gleisanschluß

Traurig steht der kleine türkische Zeitungsverkäufer vor den riesigen Stapeln unverkäuflichen bedruckten Papiers. Nach sechs Stunden Sonntagsarbeit kann er immer noch nicht über die Berge von Bild am Sonntag, Welt und Funkuhr drübergucken, die er auf den Edelstahltresen eines Außer -Haus-Verkauf-Imbisses aufgetürmt hat. Grund für die resignierte Melancholie des Zei

tungsverkäufers: Die Straßenbahnhaltestelle Domsheide hat zur Zeit einen verhängnisvollen und geschäftschädigenden Fehler: Es halten keine Straßenbahnen mehr.

Mal wieder nicht. Die Linie eins fährt hier überhaupt nicht mehr. Um die Neustadt nicht ganz vom Bremer Innenstadtleben abzuschneiden, vertreten Busse die ebenfalls lahmgelegte Linie fünf.

Ein schwacher Trost für die Fahrgäste, gar keiner für den Zeitungshändler: Die Bild-Zeitungen, die er seit sechs Uhr morgens verkauft hat, kann er um 12 an einer Hand abzählen. Der übrige Umsatz: eine Dose Haake Beck und zweimal „Praline“ mit dem allsonntäglichen Busenwunder für die ganze Familie: „Nix Straßenbahn, nix verkaufen.“

Tatsächlich: Im Kreuzungsweg des Neustädter Fahrgastes Richtung Marktstraße türmen sich unüberwindliche Hindernisse. Rot-weiße Absperrgitter, aufgetürmte Gleisstücke, herausgerissene Pflastersteine verhindern den zerstreuten Bummel, mit dem sich die Wartezeit auf den Anschlußbus per Zeitungskauf verkürzen ließe. Sonntags -Spaziergängern werden frühzeitig „wegweisende“ Entscheidungen abverlangt. Wer links ist, muß zwischen Glocke und Wilhelm-Kaisen-Brücke links bleiben, wer rechts ist, bleibt rechts, mindestens bis zum Oktogon-Turm der Straßenbahn-AG, für die das frischverlegte Pflaster an der Domsheide wieder aufgerissen wird und bis zum 3. September auch aufgerissen bleibt. Bis dahin sollen die Schienen erneuert werden. So lautet die offizielle Begründung von BSAG und Bremer Baubehörden.

Einer der Passanten hat da inzwischen so seine Zweifel. Seine Vermutung: Bei alldem, was auf Marktplatz und Domshof in jüngster Zeit schon als Kunst präsentiert worden ist, könnte die bizarre Baustellenlandschaft jetzt möglichwerweise als dauerhaftes Element der Innenstadtgestaltung gedacht sein. Eine Art stadtland

schaftlicher Kontrast zur wohlgeordneten Kleinpflasterung des Marktplatzes sozusagen.

Die Wahrheit ist viel einfacher und hängst mit der Vergänglichkeit alles Irdischen zusammen, von der selbst die stählernen U-förmig profilierten Wegstrecken einer Straßenbahn nicht verschont bleiben.

Über Anatomie und Funktion einer Straßenbahnschiene herrscht beim durchschnittlichen Fahrgast allerdings noch erheblicher Aufklärungsbedarf, wie der freundliche BSAG-Herr weiß, der unverdrossen seine Oktogon-Turm-Wächter-Pflicht versieht. Es ist nämlich ein weitverbreiteter Irrtum, daß eine Straßenbahn in Schienen läuft. In Wahrheit läuft die Straßenbahn auf Schienen. Sobald sie in ihnen läuft, ist die Schiene kaputt, muß ausgetauscht werden, die Straße muß aufgerissen werden, das frischverlegte Pflaster entfernt werden usw. (s.o.). Das Straßen

bahnrad darf bei vorschrifts mäßigem Betrieb gerade keinen Kontakt zum stählernen Grund der Schiene haben. Es schwebt darüber, während die 50 Tonnen einer ausgewachsenen Straßenbahn auf einer Auflagefläche von nur einem Quadratzentimeter auf den beiden Seitenflanken des Schienenprofils ruhen - das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Nach 20, 30 Jahren nähert sich die Schiene gefährlich der laienhaften Vorstellung ihrer Funktion. Am Domshof ist es jetzt soweit.

Übrigens: Heute eröffnet die Straßenbahn eine neuen Baustelle am Schüsselkorb und an der Violenstraße. Bis Anfang September sollen die Gleise vom Marktplatz verschwinden. Die Straßenbahnen werden solange durch Buslinien ersetzt, die über die Katharinenstraße fahren. Falschparker in dem engen Gäßchen hinterm Dom werden zugunsten der Schleichwege des ÖPNV erbarmungslos abgeschleppt.

K.S.