MULTIKULTURELLE LACHSYMPHONIE

■ Licedei mit „Assessai“ auf der Mir-Caravane

Das Zelt war viel zu klein. Das größere hatte nämlich nicht auf die Straße des 17.Juni gepaßt, und das kleinere war dann noch nicht einmal richtig aufgebaut. Das hatte man aber erst kurz vor dem Chaos gemerkt, dann noch schnell Bänke herangeschleppt, und zum Schluß saßen die Gäste enger, als Sardinen in der Büchse liegen. Zuerst wollte Unmut aufkommen - vor dem Eingang drängelten immer noch welche -, die nassen Mäntel dünsteten vor sich hin, Kinder begannen zu weinen, und natürlich machten sich die Zeltträger bemerkbar. Ein Ausweichen nach rechts, links, oben oder unten war unmöglich. Beine und Füße sagten Gute Nacht und schliefen schmerzend ein. Das konnte ja heiter werden, und das wurde es dann auch.

Das Gedränge hatte nämlich auch seine Vorteile. Unfreiwillig wurden die Ohren zunächst Zeugen multinationaler Gespräche, Spanisch hier, Deutsch da, englisches Geradebreche, auch französiches Gemurmel und amerikanischer Kaugummi, dazwischen Kindergebrabbel und als Esperanto fungierendes Englisch. Aber kaum hatten die Clowns des sowjetischen „Licedei-Theater“ das nackte Zeltrund betreten, verschmolzen die Überreste Babylons zu einem gemeinsamen Chor des Lachens, als ob ein unsichtbarer Dirigent das Zeichen gegeben hätte. Die nun folgende Aufführung war ein Ping-Pong-Spiel zwischen den Stimmführern aus Moskau und dem Echo von den Zuschauerbänken. Pianissimo begann die lose Abfolge heiterer und trauriger Geschichten mit einem Satz Stühle, der ungläubiges Lächeln darüber hervorrief, daß man sich in solchen Teilen überhaupt verheddern könnte, und leitete dann mit einem forte intonierten „Ho-Ho-Ho“ in den Hauptteil über. Das markige Dröhnen entstammte in erster Linie selbstverständlich rauhen Männerkehlen, denn Auslöser war eine junge Frau, die immense Ballons als Busen im Dekollte trug und in die entgegengesetzte Richtung ein aufgeblähtes Hinterteil streckte. Ganz authentisch kam das Gejohle jedoch nicht, schließlich war das Publikum jung, aufgeklärt und frauenfreundlich quotiert. Da blieb mancher und manchem der Ton im Halse stecken, als er oder sie noch überlegte, ob man/frau jetzt lachen dürfe. Da war es aber schon zu spät dafür, denn die Grübelei löste sich in einem besinnungslosen Kichern auf, als die beiden tapsigen Kinderclowns der Truppe ein Wettspiel daraus machten, wer wen am schnellsten mit der Unterseite des bepantoffelten Fußes erwische. Eine der komischen Figuren war schon derart darauf konditioniert, schlecht behandelt zu werden, daß er (der Figur? k.) immer noch Opfer seiner pawlowschen Reflexe blieb, als sein Kollege längst aufgehört hatte, ihn zu mißhandeln. Multikulturelle Schadenfreude auf allen Bänken.

Die Komponisten ließen alle Register ziehen: Aufkreischen war jedesmal vorprogrammiert, wenn das Hausmütterchen mit seinen Einkaufsnetzen durchs Zelt wackelte. Für das Gefühl war der Clown im gelben Strampelanzug und roten Plüschlatschen zuständig. An aufblasbaren Plastiktelefonen erprobte er seine Stimmvarianz: Hier brüllte er rein, da zwitscherte er wie ein besinnungslos verliebter Wellensittich - allgemeines Luftschnappen: „Nein, ist der süüüß!“ - und erst einmal, als er sich mit seinem rosa Luftballon auf zwei Pfeifchen stritt und damit bewies, daß der Ausdruck der Stimmbänder international ist. Was da als Pfeifen herauskam, hieß ursprünglich wohl soviel wie „Ey, Alter, is‘?“ - „Warte nur, gleich hol ich meinen großen Bruder, der macht dich mit dem kleinen Finger fertig!“ usw., wie sich das so hochschaukelt, man kennt das ja. Da war kein Halten mehr.

Eine Frau lachte und weinte zugleich - das mag seine Gründe anderswo gehabt haben - und lieferte gleich die Melodie für den Adagio-Satz. Denn traurig waren die Clowns auch, wie alle guten Clowns traurig sind. Jedes der großflächig geschminkten Gesichter zeigte die permanente Bereitschaft, sofort die Mundwinkel fallen zu lassen, und sei es nur wegen der kleinen Blume, die ein anderer geklaut hatte. Die Augenbrauen über den kreuzförmig zugemalten Augen rutschten unter den Haaransatz, die Hände versanken in den Taschen der riesigen Hosen, und dann schwankte die Figur in grenzenloser Einsamkeit und verdientem Verkanntsein. Bevor das Zuschauerherz jedoch platzen konnte vor Mitgefühl, schwenkten die „Putzfrauen“ die krummen Beine zum großen Finale los.

Als dann auch noch große, bunte Bälle in die Menge geworfen wurden, versank alles in hemmungsloser Freude. In dem Gedränge konnten sie gar nicht erst zu Boden fallen. So mußten alle, ob sie wollten oder nicht, die Kugeln wie einst im Friedenscamp über die Köpfe hin- und herwerfen, bis der unsichtbare Dirigent endlich das Schlußzeichen gab. Mehrere Vorhänge, wenn da solche gewesen wären.

Claudia Wahjudi

Licedei: „Assessai“. Auf der Mir-Caravane, noch am Mittwoch um 20 Uhr in Zelt 2.