piwik no script img

Let's go West - Über die grüne Grenze ins gelobte Land

Immer mehr DDRlerInnen flüchten über die ungarisch-österreichische Grenze, nachdem dort der Zaun abgebaut wurde / Nacht- und Nebelaktionen durchs Niemandsland nehmen von der ungarischen Stadt Sopron ihren Ausgang, obwohl die Patrouillen verstärkt wurden / Schlangen vor der BRD-Botschaft in Wien  ■  Aus Wien Irene Hanappi

Vor dem Zaun aus viereckigen Eisenstangen, der wie gespreizte Finger einer Hand Einblick gewährt auf das Rasenstück, die Skulptur und das etwas nach rückwärts versetzte Botschaftsgebäude der BRD, standen letzte Woche die Menschen Schlange. Türken, Jugoslawen, Filipinos, Iraner. Auch Bürger aus der DDR waren darunter. 80 Leute angeblich - eine ganze Reisegruppe. Heute sind es nur sechs. Unter den Wartenden im Vorraum der Konsularabteilung erkennt man sie leicht: an der Sprache, an der Aufgeregtheit und daran, daß sie nichts bei sich haben, außer einem Plastiksack. Sie wirken wie Schüler, die soeben ihr Abitur bestanden haben: froh, erleichtert und voller Neugier auf das, was kommt. Drei junge Männer und eine Familie mit 12jähriger Tochter: vorgestern waren sie noch in Sopron, heute sind sie in Wien, morgen bereits im Auffanglager Gießen.

Seit Anfang Mai die Ungarn begonnen haben, den Zaun an der 354 Kilometer langen Grenze zu Österreich abzubauen, gehen immer mehr Menschen das Wagnis ein. Für Österreichs Nachbarn bedeutet der Abbruch des Zaunes nur ein Symbol, für die anderen eine stete Verlockung. Während es den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen aus Ungarn und Polen immer schwieriger gemacht wird, im Westen Fuß zu fassen, genießen Bürger aus der DDR Sonderstatus. Man behandelt sie mit gebührender Hilfsbereitschaft und streckt ihnen Geld für Hotel- und Reisekosten vor. Bevor er noch eine Akte anlegt, fragt der Beamte: „Habt ihr gegessen?“

„Noch nie in meinem Leben bin ich so behandelt worden wie hier“, schwärmt Olaf. „Wir haben uns eine Woche lang in Sopron umgesehen“, berichtet er weiter. „Mit vielen Leuten gesprochen, wie die Lage so ist, sind die Grenze abgefahren bis 50 Meter vor den Zaun... Wir haben am Bahnhof gesessen und konnten sehen, wie der Zug nach Wien abfuhr, wir konnten ihn anfassen...“

Nach einem mißglückten Fluchtversuch - sie hatten nicht die richtige Stelle gefunden - wurde den beiden Handwerkern aus Ost-Berlin die Zeit knapp, das Visum drohte abzulaufen. Sie beschlossen, einen Österreicher anzusprechen, der „hat sie dann sofort verstanden“.

Sprungbrett nach drüben

Sopron, das ehemalige Ödenburg, ist ein historisches Ensemble, das Türken, Tataren und zwei Weltkriege (Erstens ist dies ein, gelinde gesagt, dümmliches Wortspiel, und zweitens sollten im Zusammenhang mit Weltkriegen und imperialistischer Politik Deutsche und Österreicher durchaus genannt werden, d.S.) unbeschadet überstanden hat. Mittelalterliche Stadtmauern stehen neben erst renovierten Barockbauten in Zinnoberrot und Kobaltblau. Heute ist diese westlichste ungarische Kleinstadt ein beliebtes Ausflugsziel für Wiener, Burgenländer und Niederösterreicher. Um viertel vor elf sitzen sie in den Wirtshausgärten und fragen die Kellnerin: „Können wir schon bestellen?“

Als Mekka für Freßtouristen und Shopping-City für Ost -Ungarn hat Sopron sich bereits einen Namen gemacht. Als Sprungbrett in den Westen kommt es gerade in Mode. Am internationalen Campingplatz im Norden der Stadt stehen unter Tannen und Eichen etliche Zelte, zu denen abends niemand mehr zurückkehrt. Die Konservenbüchse mit „Sächsischer Streichwurst“ enthält noch Reste einer Mahlzeit, die jetzt, getränkt in Regenwasser, penetrant zu stinken beginnt. Ein Blick ins Innere der Tramperbehausung offenbart neben dem Durcheinander aus Wäschestücken und Schlafsäcken einen „Reiseatlas-DDR“ und einen leicht als 'Neues Deutschland‘ zu identifizierenden Fetzen Zeitungspapier.

„Sie lassen alles zurück, die Zelte, die Autos, die Dokumente...“, weiß der Kellner vom Campingplatz. „Nach drei Wochen holt die Polizei das Zeug ab und übergibt es an die DDR-Behörden.“ Im Schatten der alten Bäume, 500 Meter von der Grenze zu Österreich, mit Blick auf das Niemandsland ist der Campingplatz nicht gerade ein Ort, wo Ferienstimmung aufkommt. Es wundert einen, daß auch Niederländer sich hierher verirrt haben, denn die meisten kommen mit einer ganz bestimmten Absicht - auch die Spitzel. „Die Polen wollen handeln, die Deutschen wollen weg“, resümiert der gesprächige Barmann die Situation.

Direkt hinter der Zeltanlage führt ein Weg durch den Wald. Er endet an einem Zaun, der Stacheldraht ist an beiden Seiten des Weges eingrollt, das grüngetünchte Wachhäuschen offensichtlich unbesetzt. Also gehen wir weiter, vorbei an dem leerstehenden Wachturm; wir gehen so lange, bis wir zu einem seitlich geparkten Lkw kommen. Ein Mann in Uniform döst, den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Wir fragen nach dem Aussichtsturm von Brennbergbanya. Er macht eine Bewegung mit der Hand in die Richtung, aus der wir kommen. Wir kehren um, und gerade als wir die Autotüre schließen, erreichen uns zwei Männer mit Hunden. Sie kontrollieren unsere Pässe und geben dann den Weg frei.

Verstärkte Kontrollen

Ob die Ungarn schießen, frage ich Michael, der bei seiner Flucht eine Verletzung am Auge davongetragen hat. Er habe Schüsse gehört, doch die seien wohl bloß zur Warnung gewesen. Angst habe er mehr vor den Hunden gehabt. Wie er bei strömendem Regen, als es blitzte und donnerte, über das Kornfeld kroch, ist plötzlich neben ihm ein Tier aufgesprungen. Es muß aber ein Wildschwein gewesen sein.

Zwar ist der Eiserne Vorhang jetzt gefallen, doch gibt es seither vermehrt Patrouillen, berichten die österreichischen Nachbarn. Auch die Wachtürme sind wieder besetzt, was jahrelang nicht der Fall war. Jetzt kommt es mitunter vor, daß die ungarischen Grenzer von ihrem Hochstand aus das Geschehen am Fußballplatz mitverfolgen.

Die österreichische Gendarmerie ist verstärkt im Einsatz. Laut Angaben des Sicherheitsdirektors von Burgenland kommen wöchentlich 15 bis 20 Leute aus der DDR auf illegalem Wege über die Grenze. Verletzte gab es in letzter Zeit keine. Ein Fluchtauto ist einmal nachts gegen eine Schranke gedonnert. In Mörbisch, im Seewinkel, dort wo ungarische Bauern zum Bebauen ihrer Felder nach Österreich fahren und Österreicher nach Ungarn, sind vor kurzem zwei Familien herübergekommen. „Die Gendarmen haben uns warme Decken gegeben und heißen Tee gekocht“, erzählt Irmgard, die mit Lebensgefährten und 12jähriger Tochter am selben Tag wie Michael in Schattendorf ankam. Fünf Kilometer sind sie auf dem Bauch über ein Feld gerobbt, getarnt durch das gewaltige Unwetter am Dienstag abend. „Eine Familie aus dem Dorf hat uns bei sich aufgenommen, unsere Kleider gewaschen und uns am nächsten Tag zum Zug nach Wien begleitet.“

„Was mich gestört hat“, so Michael, der in Berlin Programmierer war und jetzt in der BRD Medizin studieren will, „ist, daß die Ungarn frei rüber können und ich kriechen mußte“. Das steigerte allerdings seine Wut und half ihm, die Angst zu überwinden.

„Der Erich hat uns den letzten Mut genommen, als er gesagt hat, die Mauer bleibt noch 100 Jahre, um uns vor den Verbrechern zu schützen“, erkärt Rene, der Freund und Fluchtgefährte Olafs. „Wir haben gerade noch die Kurve gekratzt. Natürlich tut's mir ein bißchen leid für die anderen. Der Wunsch bleibt offen, daß es den Landsleuten irgendwann besser geht.“

Die Flüchtlingswelle wird, so scheint es, nicht so rasch abreißen. Verantwortliche in Ungarn erklären, daß Entspannung an der Westgrenze des Landes politisch wichtig sei, und bedauern, daß das unangenehme Folgen für die verbündeten Nachbarstaaten habe. Offiziell werden die Beziehungen zwischen Ungarn und der DDR als störungsfrei bezeichnet, so Zoltan Szabo, Pressesprecher der Regierung in Budapest. „Unsere Vorstellungen gehen auseinander, doch wir kritisieren sie nicht und wollen daher auch, daß sie für unsere Sache Verständnis haben.“

Noch ist nicht bekannt, ob die Regierungen in Prag, Ost -Berlin oder Bukarest die Visumvergabe für Ungarn künftig einschränken werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß es in Zukunft um vieles schwieriger sein wird, nach Ungarn zu reisen. Das bedeutet: der Eiserne Vorhang löst sich nicht auf, sondern wandert ostwärts, grenzt die Bruderländer immer mehr voneinander ab.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen