: Streikdebatte im Obersten Sowjet
■ Neue Forderungen, keine Lösung / Streiks gehen teilweise weiter / Gorbatschow: Schwierigste Prüfung
Moskau (ap/dpa/taz) - Freie Gewerkschaften, die Abschaffung des Machtmonopols der Partei und vorgezogene Wahlen zu den Republikparlamenten haben einzelne Abgeordnete auf der gestrigen Dringlichkeitssitzung des Obersten Sowjet in einer lebhaften Debatte gefordert. Parteichef Gorbatschow sagte, die jüngsten Arbeitskämpfe hätten „Ausmaß und Form einer politischen Krise“ angenommen. Er kündigte die Prüfung der erzielten Streikkompromisse in fünf Ausschüssen des Obersten Sowjet an. Laut 'Tass‘ werden die Streiks in den Gebieten des Donez-Beckens und in Workuta in 74 von insgesamt 121 Zechen fortgeführt.
Die Sitzung war am Sonntag überraschend angesetzt worden, um die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen aus den weiter andauernden Streiks der sowjetischen Bergarbeiter zu erörtern. In seiner Rede wertete Parteichef Gorbatschow die Arbeitskämpfe in den Kohlerevieren als bislang härteste Bewährungsprobe für die vor vier Jahren begonnene Reformpolitik. „Wir haben Tschernobyl und andere ernste Ereignisse gehabt, aber dieses ist das schwierigste“, sagte der Parteichef. Mit biblischem Pathos beschwor Gorbatschow die Hoffnung einer erfolgreichen Umgestaltung - „trotz der Prüfungen, denen wir ausgesetzt sind.“ Zugleich warnte er vor einer Fortsetzung der Steiks und verwies auf die weitreichenden Konsequenzen für andere Wirtschaftszweige.
Ähnlich wie in den Apellen der letzten Tage agierte Gorbatschow auch vor dem Obersten Sowjet mit einer vorsichtigen Mischung aus Sympathie und Kritik für die Streikenden. Sie hätten „schroff, aber zugleich konstruktiv“ gehandelt. Selbst gegenüber den Bergarbeitern im Donez -Becken, die sich auch nach dem Kompromiß zwischen Regierungskommission und Streikkomitee im Ausstand befinden, weil sie rechtlich abgesicherte Garantien fordern, zeigte Gorbatschow Verständnis.
Erneut wurde seine Strategie deutlich, den Unmut der Arbeiter als Unterstützung gegen reformfeindliche Funktionäre und „bürokratische Hindernisse“ in den lokalen Behörden zu instrumentalisieren. Diese seien die eigentlichen Verursacher der Krise. Ebenso wie auf der letzten ZK-Sitzung versuchte Gorbatschow die entstandene Situation für eine durchgrei Fortsetzung auf Seite 2
fende personelle Erneuerungsoffensive zu empfehlen: Der Oberste Sowjet solle die lokalen Parlamente des ganzen Landes aufrufen, die Arbeit der gewählten Führer zu überprüfen.
Gorbatschows Schuldzuweisung an die lokalen Behörden fand jedoch nicht die ungeteilte Zustimmung der Abgeordneten. Ein Parlamentarier
aus dem Kusznezer Kohlerevier nahm sogar ausdrücklich die örtlichen Behörden in Schutz, die „mehr als einmal“ die drängenden Probleme der Region in Moskau dargelegt hätten. „Der Streik“, fuhr der Abgeordnete fort, „ist ein Schrei der Verzweiflung.“
Die brisanteste politische Konsequenz aus den Erfahrungern der jüngsten Streiks zog der litauische Abgeordnete Uoka mit der Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften in der Sowjetunion: „Wir müssen eingestehen, daß die Gewerkschaften nicht das Vertrauen der Arbeiter besitzen. Wir müssen ihnen das Recht einräumen, unabhängige Gewerkschaften zu bilden.“ Das trifft die Stimmung unter den Arbeitern. Ihr Vorgehen während des Ausstands und die spontane Bildung unabhängiger Streikkomi
tees haben gezeigt, daß sich die Arbeiter mit den offiziellen Gewerkschaften und ihren Transmissionsdiensten für die Partei nicht länger zufrieden geben wollen. Vielerorts haben sich die Streikkomitees auch nach Wiederaufnahme der Arbeit nicht aufgelöst.
Mehrere Abgeordnete aus den Kohlerevieren forderten, die für das nächste Frühjahr angesetzten Regionalwahlen schon im Herbst abzuhalten, damit die Wähler solchen Funktionären einen Denkzettel verpassen könnten, die sich den Belangen der Grubenarbeiter nicht genügend angenommen hätten. Gorbatschow verwies in diesem Zusammenhang auf einen gemeinsamen Beschluß der Regierung und der Parlamentspräsidenten der 15 Sowjetrepubliken, demzufolge die Festlegung der Termine den Repu
bliken überlassen wird. Allerdings müsse festgelegt werden, daß der mit den Deputiertenwahlen eingeleitete Demokratisierungsprozeß fortgesetzt werde.
Den haben auch die Streikenden in Workuta im Sinn. Sie ließen den Abgeordneten ihrer Region ihre Forderung nach Abschaffung des Machtmonopols der Partei vortragen. Dazu äußerte sich Gorbatschow ebenso wenig wie zu der Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften.
Mit Blick auf ethnischen Unruhen am Schwarzen Meer betonte Gorbatschow - wohl um die Liste der Hiobsbotschaften nicht weiter zu verlängern -, die Kämpfe zwischen Abchasen und Georgiern seien zurückgegengen. „Das ist nicht wahr“, widersprach auch hier ein abgeordneter dem Parteichef.
eis
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