: Urteil mit „Perspektive“
■ Zwei Jahre und zehn Monate für den heroinabhängigen Dieb / Strafkammer plädiert für Therapie
„Herr R., als Angeklagter haben Sie das letzte Wort. Möchten Sie noch etwas sagen?“ fragte Richter Scotland den in über 30 Fällen wegen schweren Diebstahls angeklagten Michael R. gestern nach den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. „Ich bitte Sie, mir die Chance zu geben, noch einen Therapieversuch zu machen“ so die Antwort des 32jährigen, der seit 12 Jahren hochgradig heroinabhängig ist und deshalb mit einem langen Vorstrafenregister in die zweitägige Verhandlung vor der Großen Strafkammer des Landgerichts ging (s. taz vom 26.7.). Er habe schon vor der Untersuchungshaft Kontakt zur Bremer Drogenberatung aufgenommen und sich Konzepte verschiedener Therapiemöglichkeiten geben lassen. Inzwischen habe er Kostenübernahme und Platzzusage in der Hand, berichtete R. den drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, bevor die sich zur Beratung zurückzogen.
Im Strafmaß waren Staatsanwalt und Verteidiger sich in ihren Anträgen weitgehend einig: Über
zwei Jahre und sieben Monate wollten sie nicht hinausgehen. Der Grund: Das Strafgesetz erlaubt im §35 die Zurückstellung einer Strafe, sofern sie zwei Jahre nicht übersteigt. Da Michael R. seit sieben Monaten in Untersuchungshaft sitzt, könnte er unter Anrechnung dieser Zeit unverzüglich eine solche Zurückstellung beantragen.
Der Vorteil, wie Verteidiger Wesemann ihn ausführte: Michael R. hätte direkt im Anschluß an die Verhandlung seinen Therapieplatz in Hohehorst antreten, die entsprechenden Anträge von dort aus und unter Umgehung einer verwaltungstechnisch bedingten Wartezeit stellen können. Wesemann erklärte auch, warum er seinen Klienten lieber heute als morgen in Hohehorst sähe: Jetzt säße R. in der Vollzugsanstalt Oslebshausen in Haus 3 in U-Haft und damit relativ geschützt vor Drogen. Eine mit der Verurteilung dagegen wahrscheinliche Verlegung in Haus 2 würde alle Bemühungen um eine Therapie in Frage stellen, da in der dortigen Drogenszene „alle Spielarten von
Betäubungsmitteln auf dem Markt sind“, so Wesemann. Mit Blick auf Michael R.s Schicksal „HIV-positiv“ plädierte er deshalb mit dem minutiös ausgeklügelten Strafmaß.
Die Kammer entschied jedoch anders: Die Richter verurteilten R. zu zwei Jahren und zehn Monaten Gesamtstrafe. Begründung: Nicht sie, sondern der dafür zuständige Dezernent, Staatsanwalt Hübner, soll die Entscheidung nach § 35 über die Aussetzung des Haftbefehls treffen. Allerdings werde im Urteil der ausdrückliche Wunsch des Gerichts nach einer Therapie festgehalten.
Einig waren sich nach dem Urteilsspruch alle Prozeßbeteiligten: Sie wollen darauf hinwirken, daß R. nicht in die Oslebshauser Drogenszene verlegt wird und daß Staatsanwalt Hübner in drei Monaten zügig den Antrag von R. bearbeitet und die dann verbliebene Reststrafe von zwei Jahren zugunsten der Therapie in Hohehorst aussetzt.
Richter Scotland lag es besonders am Herzen, die Strafzumessung auch der Öffentlichkeit ver
ständlich zu machen. Zusammenaddiert hätte die Strafe sämtlicher 30 Einzelstraftaten dieser Verhandlung eine „astronomische Summe“, im hypothetisch errechneten „mittleren Strafmaß“ siebeneinhalb Jahre ergeben: Die Sucht relativiere die Vielzahl der Straftaten. R.s umfassendes Geständnis, seine Mithilfe bei der Aufklärung der Fälle wirkten sich ebenfalls strafmildernd aus.
„Wir haben eine Lösung gesucht, die ihm eine Perspektive auf die Zukunft ermöglicht,“ so die Urteilsbegründung. Michael. R. hatte schon zweimal („mit außerordentlich positiver Wirkung“) jeweils über ein Jahr in Langzeittherapie verbracht. Beide Male hatte R. jedoch in „Konfliktsituationen“ abgebrochen: Wenn die Therapie - etwa über Psychodrama - Michaels Verhältnis zu seinem Vater anknackste. Den Abbruch bereute R. jedesmal, schaffte es bisher jedoch nicht, „diesen Knackpunkt“ zu überwinden. Hohehorst sei darüber informiert, erzählt R. Jetzt setzt er seine Hoffnung auf diese letzte Chance.
ra
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