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„Deutschland, Deutschland über alles“

■ „Heimat Lagerleben“: Im Aussiedlerlager Bremen Lesum fühlen sich 170 Menschen zwischen Spind und Etagenbett erstmals zu Hause

Die große Hoffnung fängt auf dem Bremer Hauptbahnhof täglich um 12.58 Uhr an und endet in der Regel zwei Stunden später in Bremen Lesum. Holthorster Weg 11. Aussiedler -Übergangswohnheim. Täglich kehren hierher Menschen in die „Heimat“ zurück. Ein wildfremder Ort. Ein Koffer, ein Pappkarton und im Kopf die feste Vorstellung, „Deutsche“ zu sein.

Wer auch deutsch spricht, fragt nach dem „Büro“ und betont dabei auf der ersten Silbe. Das ist die Minderheit. Gemeinsam ist dafür allen: Im Übergangswohnheim Lesum fängt die Heimat schon lange nicht mehr an. Die Hausordnung, die in deutscher Sprache im Büroflur hängt, ist längst Lügen gestraft. „Der Aufenthalt soll vier Monate nicht überschreiten“, heißt es dort. In Wirklichkeit sind 15 Monate „Übergangslösung“ keine Ausnahme mehr. Für Neuankömmlinge ist da kein Platz. Sie ziehen, sobald die ersten Formalitäten erledigt sind, in eine der Notunterkünfte um, z.B. in ein nahegelegenes Schulgebäude, indem sich 15 Menschen inzwischen die Etagenbetten und ein ehemaliges Klassenzimmer teilen.

Dagegen nehmen sich die Fünf-Bett-Zimmer in Lesum geradezu luxuriös aus. Stahlrohrbetten, ein Tisch, 5 Metall-Spinde, 5 Stühle. Privates Mobiliar ist laut Hausordnung verboten. Kühlschrank, Radio, Cassettenrecorder - Errungenschaften der ersten Sozialhilfe - sind stillschweigend geduldet. Drei Duschen im Keller für den gesamten Männertrakt. Gemeinschaftsküche mit vier Doppelkochplatten für 10 Personen. Jeder kocht für sich allein. Ansonsten wird die Zeit totgeschlagen. Kartenspielen, Wodka trinken, an Frau und Kinder denken, Pläne schmieden, auf den Vertriebenenausweis warten. Das ganze für eine Monatsmiete von 90 Mark pro Person.

Im ersten Stock wohnen fünf Männer in einem Zimmer. Dabei ein Kranführer, ein Bautechniker, einer Maurer, ein Fräser. In Polen gut beschäftigt, in Deutschland seit Monaten arbeitslos. Ja, sie haben gewußt, daß sie vorerst keine Arbeit und keine Wohnung finden werden, als sie Frau und Kinder, Haus und Auto in Breslau, Oppeln oder Oberglogau zu

rückgelassen haben, sagen sie übereinstimmend, und der, der am längsten da ist, übersetzt. Bei ihm hat die Zeit schon für den 10-monatigen Deutschkurs gereicht, auf den die anderen noch warten. Einer kann trotzdem schon was und führt seine Kenntnisse stolz vor: „Deutschland, Deutschland über alles!“

Wenn das nicht reicht, hilft ein kleines Wörtebuch auf dem Tisch weiter: Deutsch-Polnisch, Polnisch-Deutsch. Einer holt eine Dose Aldi-Bier aus dem „geduldeten“ Kühlschrank und lacht: „Die gab's in Polen auch. Kostete einen Tageslohn.“ Auch deshalb sind sie gekommen. 5 Jahre sparen für einen Fernseher, 5 Stunden Schlange stehen für ein Stück Suppenfleisch, 10 Jahre warten auf ein Auto: „Was sind hier 15 Monate Wartezeit für eine Wohnung, auf die man in Polen 15 Jahre warten müßte.“

Einer hat zwar Vater und Geschwister in Polen zurückgelassen, dafür hat er nach sechs Monaten Deutschland ein gebrauchtes Auto. Dreimal hat der damit schon Vater und Geschwister besucht. Wenn er deutsch gelernt hat und Arbeit gefunden hat, sollen die Verwandten nachkommen. „Einer muß den Anfang machen“. Auch bei allen anderen sollen die Frauen nachkommen und die Kinder mitbringen. „Ja, die geben ihre Heimat auf. Aber ich bin der Boß, und ich bin Deutscher.“

Das kann ihm keiner ausreden. Auch nicht die Fahrgäste im Bus, wenn es zum Deutschkurs geht oder zum Arbeitsamt. Da sind die Zweifel der Hinterleute an seiner nationalen Identität unüberhörbar und auch bei noch schlechten Deutschkenntnissen gut zu verstehen: „Die Pollacken nehmen uns alles weg. Unsereiner kriegt keine Arbeit, wartet seit Jahren auf 'ne Wohnung und die kriegen's vorn und hinten reingestopft.“ Da hat der gelernte Maurer und Kranführer allerdings eine ganz andere Theorie: Wer in Deutschland arbeiten will, kriegt auch Arbeit. Wer so spricht, wie die Mitfahrer im Bus, wird sich wohl nicht bemüht haben.

Die Aussiedlerfeindlichkeit fängt allerdings nicht im Bus mit lauter Bremern an. Aussiedlerfeindlichkeit fängt im Aussiedlerlager an. „50 Prozent hier sind Pollacken,“ sagt eine Frau in per

fektem Deutsch und mit perfekt deutscher Gesinnung: „Die sind nur hier, um zu nassauern. Die gehen hier stempeln, kaufen sich Auto, Waschmaschine und Fernseher vom Stempelgeld und verschieben alles nach Polen.“ Sie selbst ist vor 15 Monaten aus Oberschlesien gekommen und ist seit sechs Monaten enttäuscht. „In Polen habe ich dreimal Strafe gezahlt, weil wir zuhause nur

Deutsch gesprochen haben. Und was ist jetzt? Jetzt konnte ich endlich nach Deutschland ausreisen und muß wieder nur polnisch sprechen und bin wieder unter lauter Polen.“

„In Deutschland“, so hat man ihr erzählt, als sich in Polen noch übers Schlangestehen, die nassen Wände und den Dreck auf der Straße geärgert hat, „in Deutschland gibt's nur noch Hunde, Kat

zen und alte Leute. Deutschland stirbt aus.“ Gut, habe sie sich gedacht: „Leute, die arbeiten wollen, wird man da brauchen können.“ Inzwischen hat sie festgestellt: Bremen in Deutschland ist dreckiger als Schlesien in Polen. Selbst die Läden haben sich angeblich in den 15 Monaten geändert, seit sie im Lager wohnt: Früher waren die Regale voll. Aber allmählich werden sie leer. Sie

weiß auch, woran's liegt: An den vielen Polen, die alles aufkaufen und nach Polen verschicken.

Nach 34 Jahren in einer Flachsfabrik in Schlesien hat sie „die polnische Wirtschaft“ inzwischen satt. „Deutschland muß wieder nach oben kommen.“ Uns sie weiß auch, wie: „Jedem von den Pollacken statt Stempelgeld einen Besen in die Hand drücken“.

K.S.

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