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Die Streiks sind vorbei - die Forderungen bleiben

Gorbatschow hat die Streikkrise unbeschadet überstanden / Doch mit den Forderungen nach unabhängigen Gewerkschaften werden die Arbeiter zu Akteuren der Reform / Noch läßt Gorbatschow kein Entgegenkommen erkennen / Streikkompromisse auf Widerruf  ■  Von Matthias Geis

Berlin (taz) - Mit dem vorläufigen Ende der größten Streikbewegung in der sowjetischen Geschichte ist der Konflikt zwischen Staatsmacht und Arbeiterklasse an der Oberfläche beigelegt. Doch der Konflikt um die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen ist damit keinesfalls entschärft. Vielmehr hat der Streik die miserable Situation in einem Wirtschaftssektor schlaglichtartig offengelegt. Denkbar, ja wahrscheinlich sind Folgeaktionen der Bergleute oder der Arbeiter in anderen Branchen, deren Lebensbedingungen sich von denen der Bergarbeiter nicht grundlegend unterscheiden.

Dennoch hat Gorbatschow die erste Streikkrise unbeschadet überstanden. Seine ambivalente Haltung, die neue Spontaneität der Arbeiter und ihre Forderungen als Ausdruck der Perestroika zu begrüßen, den Streik selbst und seine wirtschaftlichen Folgen jedoch zu verurteilen, ist vorerst aufgegangen. Den Konservativen jedenfalls ist es nicht gelungen, den neuen Krisenherd schon im ersten Anlauf für eine Schwächung der Reformer zu nutzen. Gerade weil die politischen Streikforderungen mit den Visionen der Konservativen nichts gemein hatten, traute sich Gorbatschow noch auf dem Höhepunkt der Streikwelle genügend Spielraum zu, um eine personelle Erneuerungsoffensive gegen die Reformgegner „auf allen Ebenen“ zu starten.

Der brisanteste, für das statische Organisationsgefüge gesellschaftlicher Interessen in der UdSSR folgenreichste Konflikt steht den Reformern jedoch mit der sich abzeichnenden Gründung unabhängiger Gewerkschaften erst ins Haus. Denn eine Konkurrenzorganisation mit eindeutig politischen Implikationen ist zumindest bislang im offiziellen Reformkonzept nicht vorgesehen.

Weniger spektakulär als die plötzliche Mobilisierung der sowjetischen Arbeiter und ihre Forderung nach authentischer Interessenvertretung sind die Zugeständnisse, mit denen sie sich zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen lassen. Lohnerhöhungen, mehr freie Tage, Zulagen für Nachtarbeit. Damit diese Verbesserungen nicht nur auf dem Papier gelten, wird die „vermehrte Bereitstellung“ von Verbrauchsgütern in Aussicht gestellt - Seife, Fleisch, Fernseher, Autos... Unter dem ersten Schock der beginnenden Streikwelle genehmigte die Regierung einen 10-Milliarden-Rubel-Topf zur Dämpfung der grassierenden Versorgungskrise. Hatte Ministerpräsident Ryschkow noch im Juni vor dem Obersten Sowjet eine weitere Belastung der katastrophalen Haushaltslage kategorisch abgelehnt, so nimmt die abrupte Bewilligung einer derart immensen Summe schon fast panikartige Züge an. Wenn die versprochenen Güter in die Streikregionen fließen, wird damit akute Not gemildert. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen in den Gruben, denen in den letzten Jahren Tausende von Arbeitern zum Opfer fielen, lassen sich jedoch unmittelbar ebensowenig beheben wie die Umweltschäden in den Revieren, die jetzt auch auf der Problemliste der Streikenden auftauchten.

Diese Mißstände bleiben den Reformern um Gorbatschow ebenso erhalten wie die Versuche ihrer Gegner, jede neue Destabilisierung der politischen und ökonomischen Situation für Attacken gegen die Perestroika zu nutzen. Das Dilemma der Reformer liegt darin begründet, daß jede weitere Etappe der Perestroika nicht nur notgedrungen mit Destabilisierung einhergeht, sondern geradezu auf sie angewiesen ist. Nirgends wurde das bislang in der kurzen Geschichte des Umbaus deutlicher als bei den jüngsten Streiks. Denn was die Konservativen als Zerstörung der festgefüg ten sowjetischen Ordnung werten, mußte den Reformern doch als die langersehnte, aktive Unterstützung ihrer Politik erscheinen. Nicht nur vordergründig deshalb, weil das Ansinnen der Streikenden nach ökonomischer Selbständigkeit der Betriebe, neuen Eigentumsformen oder technischer Modernisierung zum Grundbestand der neuen Politik zählt, sondern weil der Reform mit den Arbeitern der entscheidende Bündnispartner im Konflikt mit den Konservativen zuwächst mit allen Risiken, die eine selbstbewuß te interessenorientierte Arbeiter schaft den Reformern bescheren könnte.

Genau diese Zweischneidigkeit reflektiert Gorbatschows Reaktion auf die Streiks. Fast paradox muten deshalb seine jüngsten Appelle an, mit denen er die Entschlußkraft der Arbeiter begrüßt und zugleich die durch die Streiks provozierte politische und ökonomische Krise beschwört. Was Gorbatschow vorzuschweben scheint, ist nicht die aus eigenem Antrieb mobilisierte, sondern die mobilisierbare Arbeiterklasse, die bereit ist, sich der Führungsrolle der gleichwohl reformierten - Partei unterzuordnen. Deshalb zielt seine Strategie nicht auf die Schaffung neuer Organisationen, sondern auf die Erneuerung der bestehenden. Seinen jüngsten Äußerungen ist nicht zu entnehmen, daß er die Gewerkschaften als Vermittler der Parteilinie für überholt ansieht. Vielmehr versucht er den Unmut der Arbeiter zum Ersetzen konservativer Gewerkschaftsfunktionäre zu nutzen. Er setzt, ähnlich wie im Konflikt mit radikalen Reformern, auf kontrollierte Dynamik. Deshalb überrascht es nicht, daß er die Forderungen nach unabhängigen Gewerkschaften abblockt.

Die aber kommen jetzt auf die Tagesordnung. Die Streikkomitees - Keimzellen einer eigenständigen Interessenorganisation verweigern die Selbstauflösung. Daß Moskau sich erstmals gezwungen sah, Kompromisse mit den Streikenden an den etablierten Institutionen vorbei auszuhandeln, macht ihnen die Zweckmäßigkeit eigener Organe offensichtlich: gerade weil die erzielten Kompromisse nicht die Behebung der Notstände garantieren können, sondern ungesicherte Versprechen auf die Zukunft dar stellen.

Bislang wurde das Dilemma der Perestroika als Widerspruch einer gesellschaftspolitischen Liberalisierung bei andauernder ökonomischer Krise beschrieben. Den Reformern blieb, neben schwer durchsetzbaren, bestenfalls langfristig wirksamen Maßnahmen nur die ideelle Kompensation der materiellen Misere. Jetzt eröffnet sich den Reformern eine neue Perspektive, mit der sie die prekäre Balance halten könnten: die organisatorisch garantierte Teilnahme der Arbeiter am Umbauprozeß. Mit ihren politischen Streikforderungen haben sie ihren Anspruch angemeldet. Unter der uneingeschränkten Führung der Partei ist diese Perspektive freilich nicht zu realisieren. Der Erfolg der Perestroika geht einher mit dem stückweisen Machtverlust der KPdSU - und dem Risiko einer Gegenmacht.

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