: Jelzin bildet Fraktion im Volksdeputierten-Kongreß
■ Seit über 60 Jahren wider innerparteiliche Opposition in der sowjetischen Volksvertretung / Radikale Abgeordnete organisieren Finanzierung der Fraktion und verlangen ein Presseforum
Volksdeputierten-Kongreß
Seit über 60 Jahren wieder innerparteiliche Opposition in
der sowjetischen Volksvertretung
Radikale Abgeordnete organisieren Finanzierung der Fraktion und verlangen ein Presseforum
(Berlin/taz) - Die „überregionale Deputiertengruppe“, ein Zusammenschluß von progressiv orientierten Abgeordneten des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR, hat am Wochenende im Moskauer Haus der Filmschaffenden eine Tagung abgehalten. Kern der Vereinigung war ursprünglich die Moskauer Gruppe von Reformabgeordneten, deren prominente Vertreter Boris Jelzin und Juri Afanasjew das Wort ergriffen. Jelzin leicht abgemagert und im feinem blauen Anzug ganz Grandseigneur - forderte dabei erstmals eine grundlegende Umbesetzung des Zentralkomitees, da mit den alten Persönlichkeiten in der Führung die radikalen Reformen, die im Lande notwendig seien, nicht erreicht werden könnten. Zudem verlangte er erneut die Abschaffung der Privilegien und Sonderrationen der führenden Parteimitglieder, um die freiwerdenden Mittel der Wirtschaft und sozialen Zwecken zuzuführen.
Im Saal und den Wandelhallen hatten sich Abgeordnete aus allen Teilen der Sowjetunion eingefunden. Sogar Usbeken -Käppchen leuchteten bunt in den Reihen auf - ganz entgegen dem konservativen Image der Abgeordneten aus Mittelasien. Die „überregionale Deputiertengruppe“ stellt sich unter anderem auch die Aufgabe der Überwindung von Nationalitätenkonflikten im Interesse einer weitergehenden Demokratisierung der Sowjetunion. Sie umfaßte während der Tagungsperiode des Kongresses Ende Mai/Anfang Juni etwa 250 Mitglieder, ist aber inzwischen auf 540 Abgeordnete angewachsen.
„Unsere Gruppe soll kein Diskussionsclub sein, der den Obersten Sowjet mit neuen Ideen und Werten versorgt, sondern wir müssen eine beträchtliche Masse auf die alternative Waagschale der Macht im Lande legen. Zu diesem Zweck brauchen wir eine feste Organisationsform und alternative Führer, die das ganze Land kennt.“ So formulierte einer der Redner das aktuelle Ziel des Treffens. Im Vorfeld war ein „Fonds für die Deputierten-Initiative“ gegründet worden, der am 24. Juli amtlich registriert worden ist. Diesem Verein können Privatpersonen, aber auch Organisationen und Unternehmen bei Fortsetzung auf Seite 2
Moskau...
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treten, die die Tätigkeit der Reformdeputierten mit Mitgliedsbeiträgen und verschiedenen Aktivitäten unterstützen möchten. Bisher, so beklagte sich einer der am Sonntag Anwesenden, erhalten die Abgeordneten nicht einmal die Protokolle der Sitzungen des Obersten Sowjet. „Wir haben nur außerordentlich spärlich Informationen darüber, was sich an den Gipfeln der Macht, im Politbüro und im Präsidium des Zentralkomitees tut“, konstatierte ein Moskauer Abgeordneter, das Akademie-Mitglied Bogomolov.
In Zukunft sollen der Deputiertengruppe aus den Mitteln des Fonds ein ständiger Informationsdienst und wissenschaftliche Berater zur Seite stehen. Zur Vorbereitung der verschiedenen Gesetzesinitiativen sollen Expertisen eingeholt und Umfragen durchgeführt werden. Ein wesentlicher Teil der Mittel soll überregionale Kontakte zwischen den Mitgliedern begünstigen, die bisher angesichts des veralteten Verkehrs- und Kommunikationssystems in der Sowjetunion immer wieder an organisatorischen Widerständen scheiterten. Auch an einen intensiveren Erfahrungsaustausch mit dem Ausland ist gedacht, vor allem was die Arbeitsorganisation der lokalen
Sowjets angeht. Der letzte und wichtigste Punkt ist die Publikation eines eigenen Pressedienstes und die Forderung nach einer eigenen Zeitung. Gerade ein eigenes Presseorgan haben die zuständigen Behörden der Gruppe aber letzte Woche versagt. „Wenn wir die Sache mit der Zeitung verspielen, dann sind wir jeder einzelne und alle zusammen nichts wert!“ wetterte der Schriftsteller Jurdi Koridakin. Denn daß die eigene Arbeit von der zentralen sowjetischen Presse totgeschwiegen wird, darin stimmten die meisten überein. Nicht einig waren sie sich in der Frage, ob sie denn nun 98 oder „nur 75 Prozent“ des Volkes hinter sich hätten. „Fest steht, daß gerade die Deputierten, die nicht per Liste in ihr Amt rutschten, sondern sich im Wahlkampf hart schlagen mußten, heute die höchsten Autoritätsträger des Landes überhaupt sind“, meinte der Vorsitzende des Swerdlowsker Parteikomitees Wolkow. „Gerade deshalb brauchen wir ein neues und demokratisches Wahlgesetz.“
Parteimitglied oder nicht - diese Frage spielte unter den Anwesenden keine trennende Rolle, es vereinte sie das gemeinsame Ziel einer pluralistischen Gesellschaft. Sogar die Gründung einer Grünen-Partei wurde zur Debatte gestellt. Daß solche Ziele wohl kaum in der gepflegten Krawatten -Atmosphäre dieser Tagung zu erreichen seien, unter
strich der Deputierte Gonschadow, selbst Mitglied eines Streik-Komitees: „Es genügt nicht, sich radikal zu äußern, wir müssen kämpfen und uns prügeln. Einrichtungen, wie unsere Zeitung, die uns zustehen, dürfen wir nicht mehr ewig erwägen und um sie bitten. Wir müssen unsere Sache einfach machen und unsere Nase auch in den Apparat des Obersten Sowjet stecken, so wie die Bergleute in die Verwaltungsgebäude ihrer Unternehmen gegangen sind, die ihnen bisher verschlossen waren, und geguckt haben, wer sich dort eigentlich womit beschäftigt und wozu dies nötig ist.“ Gonschadow beklagte, daß letzte Woche in Streikgebieten der Ukraine Parteiplenen stattgefunden hätten, die die Entfremdung zwischen Partei und Volk nur noch vertieften. Mit Blick auf die reformorientierten Volksvertreter schloß er: „Wir haben gestern noch als Extremisten gegolten und sollten es im besten Sinne des Wortes auch bleiben.“
Als gemeinsamer Nenner der Positionen innerhalb der Gruppe wurde für Sonntag abend eine Resolution angekündigt, die unter anderem auch einen Entwurf zur Verfassungsreform enthält.
Barbara Kerneck
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