: AKW Biblis A trotz Leck am Netz
Betreiber und hessisches Umweltministerium lassen den maroden Altreaktor trotz der Leckage in der Deckeldichtung des Reaktordruckbehälters weiterlaufen / Minister Weimar will das Reaktorpersonal schützen / Öko-Institut warnt vor extremem Risiko ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt (taz) - Nach einer Störung im sensiblen Sicherheitsbereich mußte Block A des Atomkraftwerks Biblis am vergangenen Wochenende, vier Tage nach Abschluß von Revisionsarbeiten, erneut abgeschaltet werden. Die innere der beiden Dichtungen am oberen „Deckel“ des Reaktordruckbehälters erwies sich als undicht - aus einem Kontrollventil tropfte radioaktives Wasser aus dem Primärkreislauf. Ohne Reparatur ging der Reaktor am Montag bereits wieder in Betrieb.
Die Behebung des Schadens sei vom zuständigen TÜV Bayern „ausdrücklich nicht empfohlen“ worden, erklärte der Staatssekretär im hessischen Umweltministerium, Popp, weil bei dem Eingriff eine zusätzliche Strahlenbelastung des Personals nicht zu umgehen gewesen wäre. Die Undichtigkeit in der Deckeldichtung des Reaktordruckbehälters sei darüber hinaus „sicherheitstechnisch ohne Bedeutung“.
Dieser Auffassung widersprach der Atom-Experte des Öko -Instituts in Darmstadt, Michael Sailer. Der Reaktordruckbehälter des AKW Biblis A sei nämlich nicht wie heute üblich - vierfach mit Dichtungen gesichert, sondern verfüge nur über zwei Dichtringe. Im Reaktordruckbehälter, dem „Herzstück“ der Anlage, herrscht schließlich im Betrieb ein Druck von 155 bar. Bei einem Weiterbetrieb mit nur einer intakten Dichtung könne auch diese jederzeit versagen, was wiederum einen erheblichen Kühlmittelverlust zur Folge hätte. Sailer: „Dann heizt sich der Reaktor auf. Wenn zusätzlich die Notkühlung ausfällt, ist die Katastrophe da.“
Die Grünen im hessischen Landtag halten den Weiterbetrieb von Biblis A unter diesen Umständen für „unverantwortlich“. Die Absicht der Betreiber und des Umweltministeriums, die Leckage im Primärkreislauf als „Dauerzustand“ bis zur nächsten Revision in einem Jahr zuzulassen, sei ein nicht zu verantwortendes „Spiel mit der Sicherheit“. Sowohl die Grünen als auch Michael Sailer werfen dem Biblis-Betreiber RWE vor, aus ökonomischen Gründen auf die notwendige Reparatur der Dichtung verzichtet zu haben. Der Austausch dieser Dichtung sei eine ebenso teure wie zeitaufwendige Angelegenheit. Die Einlassung von Staatssekretär Popp, wonach man aus Rücksicht auf die Beschäftigten von einer Reparatur abgesehen habe, werteten die Grünen als „sicherheitsgefährdenden Zynismus“. Die hessischen Sozialdemokraten forderten gestern ebenfalls die Stillegung des Reaktors.
Trotz der Proteste blieb das hessische Umweltministerium gestern bei seiner Entscheidung auf Weiterbetrieb des Reaktors. Die Dichtung werde bei der nächsten Revision im Frühjahr 1990 repariert. Bis dahin soll ein „Meßprogramm“ die zweite, nicht defekte Dichtung auf ihre Funktionstüchtigkeit hin überprüfen und „laufend überwachen“. Diese Entscheidung des Ministeriums gilt vom Öko-Institut als Beleg dafür, daß die Aufsichts- und Genehmigungsbehörde nicht mehr in der Lage sei, mit dem zunehmenden Verfall der Altanlage Biblis A Schritt zu halten: „Ein solch geringes Sicherheitsbewußtsein wäre in den USA - inzwischen vermutlich auch in der UdSSR undenkbar.“
Block A des Atomkraftwerks Biblis war zuletzt im Dezember vergangenen Jahres in die Schlagzeilen geraten, als ein schwerer Störfall im Primärkreislauf erst mit einem Jahr Verspätung der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannt wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen