: Rekonstruktion der Abhängigkeit?
Moskaus Veto zur polnischen Regierungsbildung ■ K O M M E N T A R E
Moskaus diplomatisches Veto gegen eine polnische Regierung ohne die Kommunisten markiert einen Einschnitt in der jüngsten Emanzipationsgeschichte der ehemaligen Satellitenstaaten. Auch wenn die martialische Umsetzung der Breschnew-Doktrin im Spektrum sowjetischer Politik heute kaum mehr denkbar scheint - die volle Souveränität bleibt den osteuropäischen Staaten weiterhin verwehrt. Gerade in der Phase des rapiden Systemumbaus stößt die Toleranz Moskaus dort an ihre Grenzen, wo die Reformentwicklung für sowjetische Interessen unkalkulierbare Risiken zeitigt: Der plötzlich drohende Machtverlust der polnischen Kommunisten; ein Solidarnosc-Innenminister etwa, der die konservativen Kader im polizeilichen und bürokratischen Machtapparat formiert und zum Gegenschlag ermuntert; eine prowestliche Regierung, die versucht sein könnte, den vierzigjährigen Zwang abrupt abzuschütteln, die Verbindungen nach Osten zu kappen.
Nach der schier endlosen Kette staunenswerter Ereignisse vom Abbau der ungarischen Grenzanlagen über die Nagy -Rehabilitierung bis zur vorsichtigen Distanzierung vom Prager Einmarsch - mag das Moskauer Veto enttäuschen. Überraschend kommt es nicht - insbesondere für diejenigen polnischen Oppositionellen, die seit den Wahlen einer Koalition mit den Reformkommunisten das Wort reden. Während Walesa - wohl aus taktischen Gründen - die windige Variante einer kleinen Koalition ohne die PVAP ins Spiel brachte und damit Moskau auf den Plan rief, favorisieren Kuron, Michnik und jetzt auch Geremek gerade mit dem Argument des friedlichen Übergangs die Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Dabei haben sie allerdings wesentlich andere Modalitäten im Auge, als Kiszczak sie unter dem Motto „Regierung der nationalen Verständigung“ seit Tagen vergeblich offeriert. Sie fordern den Ministerpräsidenten -Sessel für die Solidarnosc und räumen der PVAP im Gegenzug die Schlüsselpositionen Inneres und Verteidigung ein. Die PVAP würde so den Reformkurs gegenüber den Machtorganen sichern und die im Moskauer Kalkül noch immer unabdingbare Einhaltung der Paktverpflichtungen garantieren. Solidarnosc auf diese Weise an der Macht stünde für die Fortsetzung des politischen Umbaus und die sozialen Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Konsolidierung. Solcherart Perspektiven sind für die Opposition nicht glänzend, zweifellos riskant, ungleich weniger spektakulär als der Rauswurf der Kommunisten - und ungleich realistischer.
Sollte Moskaus „Vorsprache“ in Warschau das auf den Weg bringen, wäre sie eine erneute Variante des Gorbatschowschen Paradox‘, mit den Mitteln der alten Politik eine Entwicklung abzusichern, in deren Perspektive die Intervention des Zentrums - auch in ihrer moderateren Form - überflüssig werden könnte. Dient aber die jüngste Einmischung einzig dazu, die Bauernpartei erneut in die alte Koalition mit den Kommunisten zu zwingen, wäre das nicht nur ein Rückschlag für das polnische Experiment. Es wäre ein Signal für die Rekonstruktion der Abhängigkeit, alte Politik - ohne Perspektive.
Mathias Geis
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