„Die meisten Berliner kommen aus dem Osten“

■ DDR-Übersiedler in West-Berlin: 1953 kamen mehr als 300.000 / Notunterkünfte in leeren Fabrikhallen

Bausenator Nagel kritisiert ihre „Anspruchshaltung“, Sozialsenatorin Stahmer bittet sie, wieder aus West-Berlin wegzugehen. Die Stimmung, die den neuankommenden Übersiedlern aus der DDR in diesen Tagen in der Stadt entgegenschlägt, wird zunehmend schlechter. Kein Politiker, der noch von „Brüdern und Schwestern“ spricht und sie händeschüttelnd empfängt. Und die Berliner Bevölkerung? Die Angst vor der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, der Kampf um die wenigen freien Wohnungen, machen die Übersiedler zu unerwünschten Neubürgern. Zwar haben viele Berliner übers Hilfstelefon des Sozialsenats schon Wohnungen, Zimmer und Unterstützung angeboten, doch die meisten betrachten die Versorgung der rund 19.000 Aus- und Übersiedler, die dieses Jahr kamen, als Behördensache. In den 50er Jahren strömten bis zu 300.000 Übersiedler jährlich nach West-Berlin. Die Fotos auf diesen Seiten zeigen, wie die Stadt damals mit dem Ansturm fertig wurde.

Berliner Hilfsbereitschaft heute: Hunderte von Berlinern boten bereits über das Hilfstelefon der Sozialverwaltung Wohnungen und Zimmer für DDR-übersiedler an. Viele weisen auf Wohnungsleerstand hin.

„Die sollen hingehen, wo sie hergekommen sind.“ Der Anrufer knallt den Hörer auf. Es ist kurz vor 22Uhr, seit über zwei Stunden bedienen zwei Mitarbeiter des Sozialsenats unermüdlich die Telefone. Pausen gibt es keine, seit Sozialsenatorin Stahmer um 19.35 Uhr in der „Abendschau“ die BerlinerInnen dringend um Hilfe gebeten hat: Wer eine Wohnung oder ein Zimmer in Untermiete frei hat, solle sich melden, appelliert Frau Stahmer. Unter 2122-2122 können Tag und Nacht Angebote aufs Band gesprochen werden. Und manchmal, wie an diesem Abend, setzen sich Mitarbeiter des Sozialsenats selbst ans Telefon, um Überstunden für die Tausende von Übersiedlern zu machen, die dringend eine Wohnung brauchen. Schnelle Lösungen werden gesucht, vor allem für die mittlerweile mehr als 1.000 Aus- und Übersiedler, die in Schulturnhallen leben müssen. Anfang September geht in Berlin die Schule wieder los. Und dann?

„Ich habe eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Dusche und großem Garten anzubieten, für eine Familie mit Kindern. Ich hab‘ selbst Kinder und weiß, wie schwer es mit der Wohnungssuche ist.“ Die Anruferin gibt Namen und Telefonnummer durch und erhält die Zusicherung, daß in den nächsten Tagen jemand vom Sozialsenat anruft und das Nähere mit ihr abklärt: „Die Menschen, die hier anrufen, sind unheimlich hilfsbereit“, sagt Pressesprecherin Rita Hermanns, die an diesem Abend das Telefon bedient. „Ich hatte viel mehr Beschimpfungen erwartet.“ Tatsächlich ist der Anrufer, der alle DDRler zurück zu Honecker schicken will, an diesem Abend der einzige unfreundliche Anrufer. Alle anderen bieten Zimmer oder Wohnungen an - oder weisen auf Wohnungsleerstand hin. Die Liste vor Rita Hermanns füllt sich schnell: leerstehende Fabrik in Tegel, leerstehendes Haus in Neukölln, sanierte, aber unvermietete Wohnungen in der City werden durchgegeben. „Wenn ganze Gebäude oder große Wohnungen leerstehen, geht das Landesamt für Soziale Aufgaben dem nach“, erklärt Rita Hermanns. Leerstehende Wohnungen werden der Leerstandskommission des Wohnungssenats weitergereicht.

„Ich bin 1973 selbst von drüben gekommen, ich weiß, wie das ist. Damals war's aber noch leichter, eine Wohnung zu finden“, erzählt eine Anruferin und bietet ihr Gästezimmer zur Untermiete an. Viele der AnruferInnen, die bereit sind, ein Zimmer in ihrer Wohnung unterzuvermieten, stammen selbst aus der DDR. Und es rufen auch mehrere türkische Familien an, die enger zusammenrücken wollen, um Übersiedlern aus der DDR ein Zimmer freizumachen.

Ob die spontane Hilfsbereitschaft, die viele Fernsehzuschauer angesichts der überfüllten Schulturnhallen zum Hörer greifen läßt, die alltäglichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens übersteht? Bis zu 360DM können die Gastgeber für die Untervermietung vom Sozialamt in ihrem Bezirk bekommen. Um noch mehr BerlinerInnen zu motivieren, Platz für die obdachlosen Übersiedler anzubieten, will Sozialsenatorin Stahmer künftig bis zu 600DM Untermiete zahlen. Doch eine Lösung wird auch das nicht bringen, denn schon jetzt kommen die Mitarbeiter im Aufnahmelager Marienfelde kaum nach: Mehrere Anrufer an diesem Abend beschweren sich darüber, daß sie „schon vor Tagen eine Wohnung angeboten haben, aber immer noch habe niemand vom Amt zurückgerufen“. Zur Zeit, so berichtet Rita Hermanns, werden in Marienfelde eine ganze Reihe neuer Leute eingestellt, um die wachsenden Aufgaben zu bewältigen. Um 22Uhr, mit Ende der Telefonaktion, liegen rund 50 Wohnungsangebote vor Rita Hermanns auf dem Tisch. Letztes Angebot des Tages: „Eine riesige Fabrik, wo mindestens 300 Leute unterkommen können“, wie die Anruferin erzählt: „Das ist doch nicht richtig, daß die leersteht, und Sie wissen nicht, wohin mit den Menschen. Wenn ich nicht schon 50 wäre, ich würde wieder Häuser besetzen.“

mow