: Warum der Radikale in den öffentlichen Dienst gehört
■ Der Prozeß Knigge-Zimmermann, ein deutsches Lehrstück aus der Zeit der Französischen Revolution
Martin Rector
Im Rahmen der Wiederentdeckung noch des entlegensten Halb-, Dreiviertel-, Lokal- oder Möchtegern-Jakobiners diesseits des Rheins, dessen sich im Zuge des „bicentennaire„-Jubels selbst die biedersten Lektorate und Feuilletons befleißigen, ist ein Mann zu wenig beachtet worden, der sich zwar nicht für eine der sattsam bekannten Märtyrer-Balladen eignet, der uns aber ein Lehrstück hinterlassen hat, das gerade in diesen nicht eben barrikadenseligen Zeiten den Vorzug nüchterner Aktualität haben könnte. Gemeint ist der bekannte aufklärerische Schriftsteller Adolph Freiherr von Knigge und sein weniger bekannter Prozeß gegen den Leibarzt des hannoverschen Königs Georgs des Dritten, den Hofrat Johann Georg von Zimmermann, in den Jahren 1792 bis 1795.
Ausgelöst wurde dieser Prozeß durch die - nur flüchtig als Roman garnierte - Schrift, mit der Knigge nach verhältnismäßig langem Schweigen Anfang 1792 zur Französischen Revolution Stellung bezog; sie trug den Titel Josephs von Wurmbrand, Kaiserlich-abyssinischen Ex -Ministers, jezzigen Notarii Caesarii publici in der Reichstadt Bopfingen politisches Glaubensbekenntniß, mit Rücksicht auf die französische Revolution und deren Folgen. Die wichtigsten Thesen dieses Joseph von Wurmbrand alias Adolph Freiherr Knigge zur Französischen Revolution lassen sich in drei Punkten zusammenfassen.
Der erste Punkt betrifft das staatsrechtliche Ergebnis der Revolution, wie sie sich dem Autor zur Zeit der Niederschrift darstellt, also die Verfassung der Konstitutionellen Monarchie vom Herbst 1791. Knigge begrüßt sie leidenschaftlich als Realisierung der Prinzipien von Aufklärung und Vernunft, der Ideen von Naturrecht und Gesellschaftsvertrag:
Untersuchen wir unpartheyisch die Grundsäzze, auf welchen die neue Constitution beruht; so ist es unmöglich, zu leugnen, daß sie den Stempel der gesundesten, reinsten Vernunft tragen. Was die hellsten Köpfe aller Zeitalter einzeln über Menschen-Rechte, Menschen-Verhältnisse und über die reinen Zwekke aller gesellschaftlichen Verträge gesagt haben, das findet man hier in der einfachsten, deutlichsten Ordnung dargestellt und zum Fundament einer Gesezgebung hingelegt, wie es noch nie eine natürlichere, gerechtere in irgend einem Lande der Welt gegeben hat.
Der zweite, heiklere Punkt betrifft die Mittel und Methoden, mit denen diese Staatsumwälzung, wie Knigge sagt, bewerkstelligt worden ist, also die Frage nach der Legitimität der revolutionären Gewalt. Auch hier äußert sich Knigge so unzweideutig, wie es damals schon weniger verbreitet war:
Nichts kömt mir alberner vor, als wenn man sich in moralischen und politischen Gemeinsprüchen über die Befugnisse und Nichtbefugnisse einer ganzen Nation, ihre Regierungsform zu ändern, ergießt: wenn man darüber raisonnirt, was ein Volk, wenn es sich empört, hätte thun sollen, und wie es hätte besser und gelinder handeln können und sollen, und ob zu viel oder zu wenig Blut dabey vergossen worden. Ja! wenn von einem Plane die Rede ist, den ein einzelner Mann entwirft; (...) wenn aber ein ganzes Volk, durch eine lange Reihe von würkenden Ursachen dahin gebracht ist, seine bisherige Regierungsform, die nicht taugte, die nicht in die jezzigen Zeiten, nicht zu dem gegenwärtigen Grade der Cultur paßte, in welcher sich der größte Theil der Bürger unglüklich fühlte, mit Gewalt über den Haufen zu werfen; wenn sie all hierzu durch einen Geist belebt werden, den ihre elende, verzweifelte Lage in ihnen erwekt hat; wenn dies also nicht nach einem bestimt angeordneten Plane, sondern durch einen Windstoß geschieht, der auf einmal das Feuer, das lange unter der Asche geglimt hatte, in helle Flammen auflodern macht - wer kann da Ordnung fordern? wer kann da bestimmen, ob zu viel, oder zu wenig geschieht? Schreibe dem Meere vor, wie weit es fortströhmen soll, wenn es den Damm durchbricht, den Jahrhunderte untergraben haben!
Und wenn auch bey solchen gewaltsamen Umwälzungen Scenen vorfallen, bey deren Anblikke die Menschheit zurükschaudert; wer trägt dann die Schuld dieser Gräuel? Ganz gewiß mehr die, gegen welche man sich empört, (oder vielleicht ihre Väter) als die Empörer selbst.
Der dritte, vielleicht brisanteste Punkt betrifft die Folgen der Französischen Revolution für Deutschland. Hier wird Knigge zunächst nicht sehr konkret, prophezeit aber, daß die übrigen feudalabsolutistischen Regimes Europas dieses Ereignis nicht unbeschadet überstehen werden:
Thöricht wäre es, verlangen zu wollen, daß, in einem Zeitalter, wo Cultur und Wissenschaften in allen Ständen zugenommen haben, die alten Gängelbänder, an welchem man unwissende und dumme Menschen leitet, nämlich Vorurtheil, Autorität, Täuschung und blinder Glauben, noch immer den Haufen der Starken im Zaume halten sollen (...), indeß das Volk täglich klüger, täglich abgeneigter wird, sich im Blinden führen zu lassen, werden die Ansprüche der Herrscher auf blinden Gehorsam täglich größer - das Kind behandelte man mit Glimpf und den Mann will man mit der Ruthe züchtigen. Ist es möglich, ist es denkbar, daß dies dauern könne? Nein, gewiß nicht! und ohne Prophet und ohne Aufwiegler zu seyn, kann man es voraus verkündigen, daß allen europäischen Staats-Verfassungen eine nahe Umkehrung bevorsteht.
Dies alles waren deutliche Worte - und sie waren es zumal aus der Feder eines Mannes, der selber Beamter eines „ancien regime“ war. Denn Knigge, der 1752 im Hannoverschen geborene Sproß eines alten Rittergeschlechts, der nach einem Jurastudium in Göttingen und Hofdiensten beim Hessischen Landgrafen zur bürgerlichen Aufklärung übergelaufen, ja zum führenden Kopf des Illuminaten Ordens aufgestiegen war und als freischaffender Schriftsteller zahlreiche politische aufklärerische Traktate und Romane veröffentlicht hatte dieser Knigge stand seit 1790 in Diensten der königlich -großbritannischen, kurfürstlich braunschweigisch -lüneburgischen Regierung, und zwar im Range eines Oberhauptmanns, Landdrosten und Scholarchen in Bremen. Sein Amt war es, die 1729 mit dem Herzogtum Bremen an Kurhannover gefallenen Territorien in der Freien Reichsstadt Bremen zu verwalten; dazu gehörte unter anderem der Dom und die Domschule, die einzige protestantische Schule der Stadt, sowie einige Ländereien und ein, wie es heißt, „durchaus ansehnlicher Beamten-Etat“.
Und eben diese Verbindung von hoheitlichem Amt und öffentlicher Befürwortung der Französischen Revolution war es, die besagten Zimmermann auf den Plan rufen mußte. Denn Zimmermann hatte eine exakt gegenläufige Karriere hinter sich. Gebürtiger Schweizer, hatte er bei Haller in Göttingen Medizin studiert und mit einer Arbeit über die Erregbarkeit der Nerven promoviert. In den fünfziger Jahren war er als aufklärerischer, popularphilosophischer Autor bekannt geworden, vor allem durch seine Bücher Von dem Nationalstolze und Über die Einsamkeit. Nachdem er jedoch in den sechziger Jahren an den hannoverschen Hof berufen worden war, hatte er sich immer mehr von seinen aufklärerischen Anfängen entfernt und sich auch ideologisch feudalisiert. Da der Leib, dessen Medicus er sein sollte, meist im fernen Windsor weilte, hatte er viel Zeit für andere (Privat-)Patienten, die er nicht nur regelmäßig zur Brunnensaison im Modebad Pyrmont an Leib und Seele kurierte, sondern auch in Wien und Potsdam, Kopenhagen und St.Petersburg. So kam er nicht nur zu der einen oder anderen silbernen Tabatiere, die er gern im Salon der Madame Hofrat Döring zeigte, sondern wurde von Katharina der Zweiten auch zum Ritter des Heiligen Wladimir geschlagen, wenn auch nur der dritten Klasse.
Damit war Zimmermann auch äußerlich am Ziel. Wie der Adlige Knigge demonstrativ ohne „von“ zeichnete, so nannte er, der bürgerliche Intellektuelle, sich nur noch „Hofrat Ritter von Zimmermann“. Gleichzeitig steigerte er sich wie alle echten Renegaten, in einen tiefsitzenden Haß gegen das, wovon er kam. In allem, was nach Aufklärung roch, witterte er nicht nur Gefahr für das System, in dem er sich sonnte, sondern auch ganz persönliche Nachstellungen gegen Leib und Leben. Unzählige Kräche und Fehden mit früheren Freunden, vermeintlichen Widersachern und wirklichen Feinden waren die Folge. Lichtenberg in Göttingen, der sich schon in den siebziger Jahren mit ihm hatte anlegen müssen, sprach von ihm seither nur noch als von „Don Zebra Bombast“. Und auch Knigge, der von Biografie und geistigem Profil sein geborener Intimfeind werden mußte, hatte schon 1788, als er eben nach Hannover zurückgekommen war, diese Diva des hannoverschen Hofes mit einer köstlichen Parodie auf dessen Buch über Friedrich den Großen einer geradezu irreparablen Lächerlichkeit preisgegeben.
Man kann sich also vorstellen, wie Zimmermann nach Luft schnappte, als er 1792 Kollege Knigges Buch, enthaltend Wurmbrands politisches Glaubensbekenntnis, lesen mußte. Für ihn war sofort klar: Gegen eine derart unverhohlene Apologie der Französischen Revolution von einem derart hartbeinigen Systemunterwanderer im öffentlichen Dienst half nur der Ruf nach einem starken Staat. Und also veröffentlichte Zimmermann in der erzreaktionären, streng monarchistischen 'Wiener Zeitschrift‘ im Sommer 1792 zwei Artikel, in denen er im Grunde nicht mehr tat, als eine Auswahl von, wie er glaubte, für sich selbst sprechenden Zitaten aneinanderzureihen, um dann aus diesem Dossier den Beweis abzuleiten, daß „der churbraunschweigische Oberhauptmann und Scholarch in Bremen (...) Freiherr Knigge (...) jetzt einer der schlauesten Volksaufwiegler in Deutschland ist, und daß jetzt niemand unter uns das Rebellionssisten emsiger und mit größerer Arglist predigt, als der edle Freiherr Knigge“. Der eigentliche Skandal aber sei, daß der Staat selber dem Anschlag nicht Einhalt gebiete, der von innen her gegen ihn vorbereitet werde: „Und doch glauben und behaupten Minister und ganze Legionen von Räthen und Sekretären kek und felsenfest: dies habe, Gott dank, nichts zu bedeuten (...) Überall haben jetzt die deutschen Jakobiner in ganz Deutschland das große Wort; und da insonderheit, wo man die ganze Aufklärer-Propaganda durch einen einzigen Machtspruch in die Luft sprengen könnte wie einen Haufen Sperlinge, herrscht seit einigen Jahren in Absicht auf diese neue Ordnung der Dinge die unbegreiflichste Zurückhaltung.“
Doch wie sehr Zimmermann sich auch ins Zeug legte - und an seinen Zitaten war immerhin nicht zu rütteln -: Die hannoverschen Geheimen Räte reagierten gelassen und durchaus nicht mit der gewünschten Härte. Sie erteilten Knigge einen förmlichen Verweis, weil die in dem Buch „zu erkennen gegebene verkehrte Denkungsart und Grundsätze mit eurem Dienst- und Huldigungs-Eide streiten“ - und belegten im übrigen den Verleger, weil er das Buch nicht gemäß dem Zensuredikt von 1731 zur Prüfung vorgelegt habe, mit einer Geldstrafe.
Was Zimmermann aber noch mehr Ärger machen sollte, war die ganz unerwartete Reaktion Knigges. Der nämlich drehte den Spieß um und reichte bei der Königlichen Justizkanzlei in Hannover eine förmliche Verleumdungsklage gegen Zimmermann ein. Fast drei Jahre zog sich dieser Prozeß hin, je dreimal wechselten die Kontrahenden bis zu hundert Seiten starke Schriftsätze, sekundiert von einer Flut öffentlicher Stellungnahmen von Gesinnungsgenososen aus beiden Lagern, bis die Kanzlei im Februar 1795 ihre sententia verkündete - und Knigge den Prozeß mit Glanz und Gloria gewonnen hatte.
Dieser Prozeß, allein daß Knigge ihn überhaupt anstrengte, vor allem aber, daß er ihn gewann, löst bei der gesamten Knigge-Forschung bis heute massive Berührungsängste aus. Die Linken, die Knigge in einen deutschen Jakobinismus einordnen möchten, drücken sich mit auffälliger Verlegenheit um plausible Antworten zum Beispiel auf folgende Fragen: Warum soll ein sich so kampfeslustig ins politische Getümmel stürzender, streitbarer und geistreicher Schriftsteller überhaupt von den Ausfällen eines Zimmermanns beleidigt gefühlt haben; war das nicht eine allzu larmoyante und private Reaktion für einen Jakobiner? Warum, zweitens, sollte, falls er sich doch gekränkt fühlte, ausgerechnet von der Justiz eines Staates, dessen Verfassung er öffentlich für obsolet erklärt hatte, um Genugtuung nachsuchen? Wie vor allem aber soll man drittens erklären, daß dieses Gericht an all den brisanten, von Zimmermann durchaus mit Gespür ausgesuchten Sätzen offenbar keinen Anstoß nahm? Kam das Urteil nicht einer staatlichen Unbedenklichkeitserklärung gleich - nicht gerade das beste Zeugnis für einen wirlichen Revolutionär!?
Aber auch diejenige Forschung, der man wahrlich nicht nachsagen kann, sie sei auf einem Jakobinerauge blind, mag die Dinge ganz offensichtlich nicht hinnehmen, wie sie sind. Während die Linken Knigges Sieg nicht akzeptieren können, um den Jakobiner zu retten, müssen die vorgeblich Neutralen den Prozeß entpolitisieren, um Knigges Sieg akzeptieren zu können. Ja, manch einer aus diesem letzteren Lager geht so weit, die sententia abzudrucken, und dennoch Knigges Sieg zu bestreiten.
In Wahrheit aber besteht der ironische Clou dieses Prozesses darin, daß er die politischen Bekenntnisprobleme gar nicht aufwirft, mit denen er traktiert wird. Liest man die Klageschrift Knigges und die sententia der Kanzlei genau, dann kann man auch als der Juristerei unkundiger Literaturwissenschaftler sofort erkennen, worum es in diesem Prozeß ging und worum nicht. Es ging nicht um einen materiellen politischen Streit zwischen einem Anhänger der Französischen Revolution und einem Gegner; es galt nicht, die Verfassungsmäßigkeit der einen oder anderen politischen Gesinnung zu prüfen; es ging nicht einmal um die Frage, ob Zimmermanns Anschuldigung berechtigt im Sinne von tatsachentreu waren, ob also Knigge tatsächlich ein Volksaufwiegler sei, der zum politischen Umsturz in Deutschland aufrufe; es ging letztlich überhaupt nicht um Materielles, sondern, wie wir das von den Juristen kennen, um Formales: um die Prüfung des formalen Tatbestandes einer Beleidigung Knigges durch Zimmermann.
Was Knigge einklagte, war nicht, daß Zimmermann Unwahrheiten über ihn verbreite, sondern daß Zimmermann ihn öffentlich verleumdet habe. Eine solche Injurie aber, das ist der erste springende Punkt, eine Beleidigung im Sinne des Gesetzes, konnten die Aussagen Zimmermanns auch dann sein, wenn sie den Tatsachen entsprachen. Ihr beleidigender Charakter ergab sich nämlich, und das ist der zweite springende Punkt, aus dem Umstand, daß sie nicht einer Privatperson galten, sondern einer Amtsperson, die hoheitliche Tätigkeiten ausübte. Und in der Tat hatte Zimmermann ja nicht den Schriftsteller Knigge, sondern ausdrücklich dem Bremischen Oberhauptmann Knigge als Volksaufwiegler bezeichnet. Eine solche Anzweiflung der Verfassungstreue eines Beamten aber stand nur dessen vorgesetzter Dienststelle zu, nicht irgendeiner beliebigen Privatperson.
Wenn also Zimmermann Bedenken bezüglich der Verfassungstreue Knigges hatte, dann gab es, wie das Gericht ihn belehrte, zwei Möglichkeiten: Er konnte den Schriftsteller Knigge seiner politischen Auffassung wegen öffentlich angreifen; oder er konnte den Beamten Knigge bei dessen Vorgesetztem förmlich anzeigen. Was er aber nicht konnte, war, was er getan hatte, nämlich eine Mischung aus beidem: Er hatte öffentlich den Beamten Knigge denunziert. Eine solche öffenliche Denunziation eines Beamten war, ungeachtet ihres materiellen Wahrheitsgehaltes, nicht erlaubt. Sie kam praktisch einer Amtsanmaßung gleich. Das Gericht konnte gar nicht anders, als Knigge Recht zu geben. Und eben dies dürfte der studierte Jurist Knigge genau erkannt haben: daß der schäumende Zimmermann, sicher ahnungslos, in seinem panischen Eifer, die Beamtengesetze nicht beachtet hatte. Kühl, vielleicht sogar mit schalkhafter Schadenfreude, nützte Knigge diese Blöße aus, legte den eitlen „Don Zebra Bombast“ mit höchstrichterliche Hilfe aufs Kreuz und registrierte überdies mit Genugtuung, daß die jahrelange Affäre seinen politischen Kernsätzen ungeahnte Publizität verschafft hatte.
Doch man würde Knigge politisch unterschätzen, wenn man seinen Prozeßsieg über Zimmermann allein als taktisches Bravourstück betrachtete. Vielmehr entsprach, was er formal geschickt und erfolgreich einklagte, durchaus seinen inhaltlichen politischen Überzeugungen und seinem schriftstellerischen Selbstverständnis in den neunziger Jahren. Dieses nämlich war eine pragmatische Synthese aus seiner frühen Illuminaten-Philosophie und seiner unmittelbaren Verarbeitung der Französischen Revolution.
In seinen Illuminaten-Schriften zu Beginn der achtziger Jahre hatte Knigge eine (durchaus nicht originelle) geschichtsphilosophische Skizze der Menschheitsentwicklung entworfen, die sich in drei Schritten vollzog. Danach werde die Menschheit nach dem Verlust ihrer ursprünglichen Freiheit in der „Wildheit“ und nach der Überwindung des gegenwärtig andauernden „Despotismus“ erst in einer dritten, noch zu erreichenden Stufe wieder „in ihre ursprünglichen Rechte“ eintreten: Der Mensch werde wieder fähig, „sich selber zu leiten“, es kehre ein Zustand wieder, in dem „alle Fürsten und Staaten entbehrlich“ würden, ohne daß dies einen Rückfall in die materiellen Daseinsumstände der „Wildheit“ bedeute. Diese Wiedergewinnung der natürlichen Freiheit auf höherer Entwicklungsstufe könne aber, wie die abendländische Geschichte als eine einzige Abfolge wechselnder Tyranneien gezeigt habe, „nicht durch Rebellion und gewaltsame Abschüttelung des Jochs“ errungen werden, sondern allein durch eine „Revolution des menschlichen Geistes“.
Dies war Knigges Vorstellung von der Revolution noch, als in Paris der Sturm auf die Bastille losging. Entsprechend irritiert schwieg er zunächst. Einerseits paßte die Französische Revolution in seinen Weltentwurf nicht hinein, weil sie nicht von den Illuminierten, sondern vom Pöbel bewegt worden war und weil sie sich mit Gewalt und Blutvergießen vollzog; andererseits war sie unverkennbar von den Idealen der Gleichheit und Freiheit ausgegangen und zeitigte, wenn auch nicht die Realisierung der Utopie, so doch die Überwindung des Despotismus. Also unterschied Knigge, um sie in seine Konzeption zu integrieren, zwischen ihren Methoden und ihren Ergebnissen.
Wenn er ihre gewaltsamen Methoden im Falle der Französischen Revolution rechtfertigte, so als Ausnahme, nicht als Notwendigkeit. Die Ausnahme bestehe darin, daß der französische Absolutismus eine derart extreme Gestalt angenommen habe, daß ein gewaltsamer Gegenschlag gewissermaßen unvermeidlich geworden war. Insofern lasse sich auch über das Faktum nicht mehr richten. Im Sinne einer aufgeklärten politischen Regie der Geschichte aber sei die gewaltsame Staatsumwälzung allenfalls die zweitbeste Lösung.
Das entscheidende und akzeptable Ergebnis der Revolution lag für Knigge nicht etwa in der Aufhebung der Feudalrechte, überhaupt nicht in der Auflösung sozialer Widersprüche, sondern, gewissermaßen formal-staatstheoretisch, in der Etablierung einer Verfassung. Denn diese Verfassung trat nun in jene idealistische Leerstelle, die in seiner alten Konzeption zwischen der zweiten, despotischen, und der dritten, befreiten, Stufe der Menschheit klaffte. Im Institut der Verfassung selber sah Knigge nun das Instrument, mit dem das Verhältnis zwischen Regierenden und Volk ausbalanciert wird. Sie sei, gewissermaßen eine historische Variable, Ausdruck des erreichten Standes der Aufklärung beim Volk wie beim Herrscher. Welche inhaltliche Gestalt sie annimmt, ist daher für Knigge sekundär; letztlich favorisiert er sogar die Monarchie. Entscheidend ist für ihn, daß in diesem Falle der Monarch so aufgeklärt ist, daß er mit aufgeklärten Untergebenen rechnet und seine Herrschaft immer diesen zunehmend aufgeklärten Ansprüchen des Volkes anpaßt - denn nur so vermeidet er, durch eine Revolution hinweggefegt zu werden wie der französische König.
Knigge rechtfertigt und begrüßt die Französische Revolution also als historische Tatsache, aber er entnimmt aus ihr eine politische Lehre zu ihrer Vermeidung durch eine zuvorkommende Transformation des Despotismus in einen Verfassungsstaat, und diese Transformation denkt er nicht als vom Volk getragene Revolution, sondern als Anpassung der Herrschenden an den im Volk jeweils erreichten Stand von Freiheitsbewußtsein. Die Kernthese des Wurmbrand lautet daher: So unvermeidlich die Revolution in Frankreich war, so vermeidbar ist sie in Deutschland, wenn alle Seiten die richtigen Lehren aus ihr ziehen: „Ich behaupte, wir haben in Teutschland keine Revolution weder zu befürchten noch zu wünschen, wenn nur die verschiedenen Regierungen, statt die Aufklärung zu hindern, mit ihr Hand in Hand fortrücken und die Mittel, Ordnung zu erhalten, mit der Stimmung des Zeitalters in ein richtiges Verhältnis setzen.“
In diesen Sätzen wird schließlich Knigges Selbstverständnis als politischer Schriftsteller erkennbar. Wie die Verfassung das Regulativ des Verhältnisses von Regierung und Volk nach Maßgabe des beiderseitigen Standes der Aufklärung ist, so ist der Schriftsteller der Motor dieser Aufklärung im Volk wie beim Herrscher und der Moderator des Verhältnisses zwischen beiden. Er darf daher nicht einseitig Partei ergreifen, darf weder auf der Seite der Herrschenden noch der Beherrschten stehen, sondern zugleich zwischen und über ihnen, als Anwalt der Aufklärung. Wörtlich schreibt Knigge 1791, Aufgabe des Schriftstellers sei es, „mit philosophischem Geiste Volk und Monarchen über ihre gegenseitigen Pflichten aufzuklären“. Mit den modernen Formeln des politischen Schriftstellers, des parteilichen, agitatorischen, volksverbundenen, eingreifenden oder operativen Schriftstellers kann man daher Knigge nur gründlich mißverstehen. Viel eher paßt auf ihn Freiligraths in diesem Kontext gern verpönte Formel, der Dichter stehe „auf einer höheren Warte als auf den Zinnen der Parteien“. Ausdrücklich betont Knigge in der Vorrede zum Wurmbrand, er habe die Dinge gründlich abgewogen, er enthalte sich allem falschen „Enthusiasmus“, denn, so wörtlich: „Ich gehöre nicht zu den enrages“. In der Tat schrieb Knigge den Wurmbrand und auch seine anderen Schriften nicht, um das Volks zur Revolution aufzuwiegeln; er schrieb ihn, weil er die deutschen Fürsten zugleich aufklären und warnen wollte, weil er die Überwindung des Despotismus durch eine Konstitution ohne Revolution wollte. Und dieses politische Ziel war für ihn mit dem Status eines Beamten in Kurhannover nicht nur vereinbar - er hielt es sogar für eine Staatsdienerpflicht dafür einzutreten.
Es macht daher keinen Sinn, Knigge, den lange als „Benimm -Buch„-Autor verkannten und verharmlosten Aufklärer, gleichsam zu „retten“, indem man ihn (wie in der bundesrepublikanischen Forschung der siebziger Jahre geschehen) vollends zum „Jakobiner“ ernennt und ihn so ein zweites Mal verkennt. Wir sollten Knigge lieber ernstnehmen als den, der er war: als einen intellektueller Streiter für Aufklärung, Freiheit und Vernunft, der - nicht eben häufig in der deutschen Literaturgeschichte - willens und fähig war, seinen Status als Beamter offensiv einzusetzen gegen die Reaktion und für seine eigene Verteidigung gegen Verleumdung und Verfolgung, kurz: Wir sollten Knigge ernstnehmen als einen im Staatsdienst politisch überlebenenden Radikalen ohne Misere.
Überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrages im Leibnizhaus in Hannover am 19. April 1989
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