Krach beim Internationalen Roten Kreuz

200 MitarbeiterInnen bemängeln „Führungsschwäche“ der Leitung / IKRK zeige zu wenig Mut gegenüber Regierungen von Krisengebieten / Einsatzleitung vor Ort wird oft alleingelassen / Kündigungen von MitarbeiterInnen „kollektiver Selbstmord der Organisation“  ■  Aus Genf Andreas Zumach

Kurz vor den aufwendigen Feierlichkeiten zum heutigen 125. Jahrestag der 1. Genfer Konvention über die „Verbesserung des Schicksals verwundeter Feldarmeen“ wurde ein seit fünf Monaten geheimgehaltener Brief bekannt, in dem immerhin 200 hauptamtliche MitarbeiterInnen der Genfer Zentrale sowie mehrerer Außenstellen in aller Welt das Direktorium des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) unter Präsident Cornelio Sommaruga hart kritisieren. Sie werfen ihm „gravierende Führungsschwäche“, Konzeptionslosigkeit“ sowie „zu wenig Mut gegenüber Regierungen“ vor. In der Organisation herrsche eine „allgemeine Vertrauenskrise“. Unter bezug auf den Weggang frustrierter KollegInnen in den letzten Monaten und Jahren heißt es in dem bereits im März bei Sommaruga eingegangenen Brief weiter: „Die Welle von Kündigungen reißt nicht ab. Wenn es im IKRK so weitergeht, dann kommt dies einem kollektiven Selbstmord der Organisation gleich.“ Die IKRK-MitarbeiterInnen beschweren sich außerdem über zu strenge Hierarchien und die zu große Belastung sowie darüber, bei ihrer Arbeit vor Ort in den Krisengebieten von der Genfer Leitung alleingelassen zu werden, zumal, wo es um Standfestigkeit gegenüber Regierungen bei der Durchsetzung der IKRK-Konventionen geht. Außerdem werfen sie dem sechsköpfigen Direktorium mangelnde Kooperation vor.

Besonders kritisiert werden die beiden für Finanzen und für Einsätze vor Ort verantwortlichen Direktoren. In einem Antwortschreiben vom 5. April, der bislang einzigen Reaktion auf den Brief der Kritiker, speiste Sommaruga seine MitarbeiterInnen mit der Aufforderung „Taten statt Worte!“ ab. Durch das Bekanntwerden des Briefes zu einer Stellungnahme gezwungen, erklärte der IKRK-Präsident gegenüber dem Schweizer Fernsehen, die Probleme seien „nicht gravierend“. Es sei „gesund, wenn Mitarbeiter in konstruktivem Sinne an die Zukunft der Institution denken“. Doch seit Freitag ist der Presseabteilung seines Hauses jegliche Stellungnahme verboten: Sommaruga erklärte die Angelegenheit zur Chefsache.

Journalisten läßt er seitdem von seiner Sekretärin abwimmeln. Ein Mitarbeiter der Genfer IKRK-Zentrale, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben wollte, verschärfte am Montag die Vorwürfe. Sommaruga führe „das IKRK in einer rüden Deutschschweizer Art wie ein Topmanager ein Wirtschaftsunternehmen“. Das sei „nicht die Aufgabe des Präsidenten“. Falls das IKRK weiterhin zu den schlimmsten Menschenrechtsverletzungen schweige und jede Regierung mit Samthandschuhen anfasse, seien die im Ausland schon gefallenen Vorwürfe vom „schweigenden Komplizen IKRK“ wohl berechtigt. Die Aufgabe des IKRK sei es, praktische Hilfe zu leisten und gleichzeitig die Einhaltung der Genfer Konvention bei bewaffneten Konflikten zu überwachen. Aktuelles Beispiel für die Haltung des IKRK sei der Iran -Irak-Konflikt: Ein Jahr nach dem Waffenstillstand entspreche die Behandlung der über 100.000 Kriegsgefangenen auf beiden Seiten immer noch nicht den in den Genfer Konventionen vereinbarten Standards. Wenn die IKRK -Generalversammlung am morgigen Mittwoch Sommarugas Kurs bestätige, bleibe vielen MitarbeiterInnen „nur noch die Kündigung“.