: Eine Menschenkette gegen Moskau
■ Mit einer 620 Kilometer langen „Baltinskaja Doroga“ aus 1,5 Millionen Menschen erinnert das Baltikum an den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes / Sowjetpresse hält sich zurück / Polens PVAP bezeichnet den Pakt als „ungültig“ / Kundgebung auch in Bonn
Riga/Moskau/Warschau (dpa) Mit einer rund 620 Kilometer langen Menschenkette sowie zahlreichen kleineren Kundgebungen haben die baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen gestern an den 50.Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes erinnert. In allen drei baltischen Republiken wurden die Fahnen der bis 1940 selbständigen Nationalstaaten mit Trauerflor auf Halbmast geflaggt. Durch die geheimen Zusatzprotokolle des am 23.August 1939 geschlossenen Hitler -Stalin-Paktes fielen das Baltikum, aber auch Ostpolen und die Nordbukowina in den Machtbereich der Sowjetunion.
Zu der Menschenkette, die um 19.00 Uhr Ortszeit die Hauptstädte der Republiken, Tallin, Riga und Vilnius, verbinden sollte, erwarteten die Veranstalter, die Volksfronten Estlands, Lettlands und Litauens, rund 1,5 Millionen Aktivisten. In den Städten herrschte gestern morgen zunächst gespannte Ruhe. Der historische Jahrestag war ein normaler Arbeitstag. Am Nachmittag dann versammelten sich überall die Leute zu dem Projekt „Baltinskaja doroga“ (Baltische Straße), wie die Menschenkette genannt wurde, an den vorgesehenen Orten. Sie diskutierten über die historischen Ereignisse und die heutige politische Situation des Baltikums. Alle Aktionen rund um die Menschenkette sollten live in Rundfunk und Fernsehen von Litauen und Estland übertragen werden.
Die zentrale sowjetische Presse berichtete am Mittwoch fast gar nicht über die Umstände und die Folgen des Hitler-Stalin -Paktes. Nur in der Gewerkschaftszeitung 'Trud‘ wurden bekannte sowjetische Standpunkte zum Abschluß des Nichtangriffspaktes wiederholt. Auch im Verlaufe des Tages berichtete die Nachrichtenagentur 'Tass‘ nicht aus dem Baltikum. Allerdings kritisierte das sowjetische Parteiorgan 'Prawda‘ am Mittwoch heftig das Eintreten der litauischen Bewegung für die Perestroika, Sajudis, für die Unabhängigkeit der Republik.
Im Vorfeld des Jahrestags hatten die Volksfronten im Baltikum die Regierungen der Bundesrepublik, der DDR, der UdSSR sowie die UNO aufgefordert, das gesamte Vertragswerk des Hitler-Stalin-Pakts für null und nichtig zu erklären. Der lettische ZK-Sekretär Ivars Kesberis hatte sich im regionalen Fernsehen noch am Dienstag „für eine schnelle Annullierung“ des Paktes ausgesprochen. Gleichzeitig sollte seinen Worten zufolge mit der UdSSR ein neuer Vertrag abgeschlossen werden, der das Verhälnis zwischen dem Baltikum und der Sowjetunion regelt. Dieser Vorschlag wurde in ersten Reaktionen der lettischen Volksfront abgelehnt. Sie plädierte dafür, daß ein solcher Vertrag erst nach Neuwahlen zum Obersten Sowjet der Republik abgeschlossen werden sollte, weil der jetzige Oberste Sowjet nach Auffassung der Volksfront „schlechte Bedingungen“ aushandeln würde.
Zum Jahrestag des räuberischen Vertrags haben sich auch Polens Kommunisten zu Wort gemeldet. Die geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23.August 1939 sind nach Auffassung der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) von Anfang an „nichtexistent und ungültig“. Eine entsprechende Erklärung veröffentlichte am Dienstag in Warschau das Politbüro der Partei. Am 17.September 1939 hatten sowjetische Truppen mit der Besetzung Ostpolens begonnen. In der Erklärung des Politbüros wurde betont, daß sie keinerlei Auswirkung auf die nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegten und heute existierenden Grenzen in Europa habe. PVAP-Sprecher Jan Bisztyga sagte auf Fragen, man habe nicht die Absicht, an die UdSSR Entschädigungsansprüche zu stellen.
Auch die Balten in Westeuropa solidarisierten sich. Rund 1.000 in Westeuropa lebende Balten trafen sich gestern zu einer Kundgebung in Bonn. Die Exilgruppen verurteilten den Hitler-Stalin-Pakt. Auf Transparenten fragten sie: „Warum müssen die Balten die Folgen eines 'ungültigen‘ Paktes tragen?“ Tagesthema Seite 3
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