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Martinshof-Ableger in der Silberfabrik

■ Behinderte absolvierten Betriebspraktikum bei der BSF / Künftig ein Dutzend spezieller Arbeitsplätze für psychisch Kranke

In Reih und Glied sitzen vier Frauen und zwei Männer mit schneeweißen Handschuhen an dem langen Packtisch in der Bremer Silberwarenfabrik (BSF) in Hemelingen. Um sie herum stapeln sich große und kleine Kartons und vor allem viel edles Silber - vom Moccalöffel bis zur silbernen Kartoffelgabel. Routiniert knickt und falzt eine Frau kleine Kartons und Schachteln. Die anderen sortieren zügig Gabeln, Löffel oder Messer in diese Pakete. Am Ende des Packtisches füllt ein anderer die Schachteln und Schächtelchen voller Tafelsilber in größere Kartons.

Eine ganz alltägliche Arbeits-Szene in einer alltäglichen Packabteilung der Silberwarenfabrik, so könnte man meinen. Wenn es nicht an diesem Tisch etwas langsamer und ruhiger zuginge als an den anderen Packtischen in der Fabrikhalle. Die sechs Frauen und Männer sind geistig behindert. Normalerweise arbeiten sie in den Werkstätten des Martinshofs - einer Anlaufstelle für viele behinderte Menschen, die dort auch arbeiten und sich in ihrer Freizeit beschäftigen können. Acht Wochen lang hatten sie Gelegenheit, aus dem Martinshof herauszugehen und in der Silberfabrik zu erleben, wie sie in einem großen Betrieb zusammen mit nichtbehinderten Menschen arbeiten können.

„Neben dem gegenseitigen Kennenlernen und Akzeptieren, damit Vorurteile abgebaut werden, ist die Eingliederung in die

normale Arbeitswelt für die Behinderten sehr wichtig“, umreißt Hannelore Stöver, Mitarbeiterin der Werkstätten Bremen (Martinshof), die Ziele des Betriebspraktikums. Hannelore Stöver: „Das Arbeiten der Behinderten am Martinshof darf keine Sackgasse für sie sein. Integration in diesem Bereich ist sehr wichtig.“ Ganz ähnlich sieht das auch Ulrich Aßmann, Vorstandsmitglied bei der BSF: „Wir wollen als Unternehmen den Behinderten eine Chance geben.“ Ein Jahr dauerten die Verhandlungen zwischen

dem Martinshof und der Silberwarenfabrik.

Die Arbeit selbst war für die Behinderten nichts Neues: Seit etwa zehn Jahren besteht der Kontakt zwischen dem Martinshof und der Silberwarenfabrik. Gegen ein Pauschalhonorar an den Martinshof erledigen die Behinderten häufig kleinere Aufträge, besonders im Verpackungsbereich, wofür sie vom Martinshof dann ein entsprechendes Entgelt (von rund 250 Mark) erhalten.

In den Werkstätten des Martinshofs wurden auch schon frü

her Geschenkkartons gepackt, Sortierarbeiten geleistet und Schutzhüllen für edles Silberbesteck genäht. Aber in einer „richtigen“ Fabrik zu arbeiten - das war für die sechs Behinderten dann doch sehr aufregend. Das „Muffensausen“ vor dem ersten Tag in der Fabrik blieb nicht aus. „Wir sind hier aber ganz toll aufgenommen worden, und haben uns gleich gut mit den anderen Kollegen verstanden,“ erzählt der 57jährige Herbert K. „Darum hab‘ ich mich schon gleich am ersten Tag ganz wohl gefühlt,“ re

kapituliert Sabine L., 32 Jahre alt. Über die vielen Klönschnacks mit den „Normalen“ und den Spaß in der Kantine, freute sich Frank B. besonders. Auch die Arbeit von rund 30 Stunden in der Woche habe Spaß gemacht. Anstrengend sei es nicht gewesen - eben eine „richtig schöne Sitzarbeit“, meinte Herbert K.

Eine wichtige Erfahrung war dieses Praktikum auch für ihre normalen PackkollegInnen: Vorurteile seien abgebaut worden. Annemarie Abtmann, Chefin der Packabteilung,: „Ich war vorher sehr skeptisch eingestellt. Das ist jetzt anders. Ich habe sehr gerne mit ihnen zusammengearbeitet. Die haben sich richtig über ihre Arbeit gefreut.“

Auch die Unternehmensleitung der BSF bewertet das Betriebspraktikum als eine sehr positive Erfahrung: „Wir haben alle dazu gelernt“, so U. Aßmann. Und weil fast alles so erfreulich war, will der Martinshof auf dem Fabrikgelände eine „Außenarbeitsgruppe“ errichten. Anfang nächsten Jahres können dann zwölf Behinderte täglich in der Silberwarenfabrik arbeiten. Eine spätere Übernahme der Behinderten ist laut Unternehmensleitung denkbar.

Aber genau das bereitet vielen ArbeitnehmerInnen aus der Packabteilung Kopfschmerzen. „Die bangen nämlich um ihre Arbeitsplätze,“ beschreibt Wolfgang Schmidt, Betriebsrat der BSF, die Stimmung an der Basis.

Nicola Roggendorf

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