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Baltische Volksfronten auf Unabhängigkeitskurs

■ Keine Zwischenfälle bei Demonstrationen / Hunderttausende skandierten „Lettland in die EG“ und „Stoppt die Besatzung“ / Moskau bezichtigt litauische nationalistische Bewegung der „doppelten Politik“ / Volksfrontführer äußern sich moderat zur Autonomie

Tallin (afp/ap) - Ausführlich gingen gestern sowjetische Zeitungen auf die Massenkundgebungen anläßlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes ein. Dessen Geheimes Zusatzprotokoll hatte es Stalin 1940 ermöglicht, Estland, Lettland und Litauen zu annektieren. In einer vom West-Berliner Sender Rias mitgeschnittenen Sendung von Radio Moskau sagte ZK-Mitglied Alexander Jakowlew, das geheime Protokoll sei eine „Abweichung von den Leninschen Grundsätzen der sowjetischen Außenpolitik gewesen“. Weder Vertrag noch Zusatzprotokoll hätten den „rechtlichen und politischen Status Litauens, Lettlands und Estlands“ bestimmt.

In einer Menschenkette zwischen den drei Hauptstädten hatten am Vortag mehrere hunderttausend Menschen ihrer Forderung nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion Ausdruck verliehen. Ebenso wie das Fernsehen vermieden die anderen sowjetischen Medien, die sezessionistischen Anliegen auf den Spruchbändern wiederzugeben. Die DemonstrantInnen forderten darauf „Nieder mit der Roten Armee“ oder auch „Stoppt die Besatzung“. In Riga ließ sich bereits erkennen, welche Hoffnungen die Letten mit einer Loslösung aus der UdSSR verbinden. Spruchbänder verlangten hier „Lettland in die EG“. Um ihren Zielen Nachdruck zu verleihen, waren fast alle Slogans für die westlichen Medien in Englisch abgefaßt. Zu Zwischenfällen mit der Miliz soll es trotz der antirussischen Stimmung nicht gekommen sein. Lediglich aus Moskau wird berichtet, bei Zusammenstößen mit Anhängern der illegalen Oppositionspartei Demokratische Union seien 75 Demonstranten verhaftet.

Am Mittwoch hatte die Parteizeitung 'Prawda‘ die nationalistische Bewegung Litauens, Sajudis, einer „doppelten Politik“ bezichtigt. Noch vor einem Jahr hätte sich die Bewegung, die von der Kommunistischen Partei Litauens mitgegründet wurde, dafür eingesetzt, die Politik der Perestroika voranzutreiben. „Was aber zur Zeit passiert, ist das genaue Gegenteil dieser Grundsatzerklärung und kann nur zu Mißtrauen, in eine Sackgasse führen“, meinte die 'Prawda‘ in ihrer Kritik. Besonderen Unmut hatten Bemerkungen einiger Sajudis-Führer ausgelöst, die von Nicht -Litauern als „Besatzer“ oder „Einwanderer“ gesprochen hatten.

Im Vergleich zu den Forderungen der Basis in den Volksfronten hatten sich ihre Führer relativ vorsichtig zu den Unabhängigkeitsforderungen geäußert. Als eine Vorstufe zur politischen Autonomie war hier zunächst die Rede von wirtschaftlicher Selbstbestimmung. Langfristig knüpfen sich hieran Hoffnungen auf eine Art Finnlandisierung des Baltikums, das dann als Brücke zwischen Westeuropa und der UdSSR wirken könnte. Der Führer der estnischen Volksfront allerdings sprach sich für einen Volksentscheid über den Verbleib der Republik in der sowjetischen Föderation aus. Estlands Ministerpräsident, Indrek Toome, sieht für eine Loslösung keine realistische Perspektive.

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