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„Pakistan führt praktisch Krieg gegen Afghanistan“

Afghanistans Außenminister Abdul Wakil kritisiert die sowjetische Intervention und äußert sich zur Politik der nationalen Versöhnung sowie zum Islam  ■ I N T E R V I E W

taz: Viele Leute sagen, es könnte - oder sollte sogar einen Krieg gegen Pakistan geben wegen dessen Einmischung in Afghanistan.

Abdul Wakil: Pakistan führt praktisch Krieg gegen Afghanistan. Natürlich werden bei uns in der Bevölkerung Stimmen laut, die eine praktische Antwort fordern - nämlich sich zu verteidigen. Aber wir beschränken uns immer noch auf friedliche Mittel. Wir glauben, die Weltöffentlichkeit und die UNO werden Pakistan dazu bringen, seine Aggression einzustellen.

Ihre Regierung scheint nach dem Abzug der sowjetischen Truppen politisch wie militärisch stärker als vorher. Wie erklären Sie sich das?

Der Abzug der Sowjets hat das Vertrauen in die eigene Kraft gestärkt. Außerdem war die sowjetische Präsenz international eine Belastung.

Wie denken Sie denn heute über die sowjetische Intervention?

Wir halten die Aufforderung der damaligen afghanischen Regierung an die Sowjetunion, Truppen nach Afghanistan zu entsenden, für einen Fehler der damaligen Regierung genauso wie der sowjetischen Führung. Man hätte andere, politische Mittel finden können, um eine Eskalation des Kriegs zu verhindern.

Das Überleben Ihrer Regierung scheint mir heute vor allem von zwei Dingen abzuhängen: vom Zusammenhalt der Regierungspartei, die sich ja in der Vergangenheit durch heftige Fraktionskämpfe ausgezeichnet hat, und zweitens davon, ob es unter der städtischen Bevölkerung zu wirtschaftlich oder politisch motivierten Unruhen kommt bis hin zu Aufständen, wie sie sich einige Mudschaheddin, die ihren Sitz im pakistanischen Peshawar haben, erhoffen.

Unsere Partei war, als sie die Macht im April 1978 übernahm, sehr jung und hatte wenig Erfahrung. Sie beging Fehler, und ihre Politik war der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Gesellschaft nicht gut angepaßt. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Gruppen in der Partei zunahmen. Jetzt aber fördert sie eine Politik nationaler Versöhnung, von Kompromiß und Verhandlungen unter den Afghanen - die Suche nach einer friedlichen Konfliktlösung -, der Einheit und Solidarität in unserer Partei wie in der Gesellschaft.

Aber es gibt doch auch in Ihrer Partei Widerstand gegen diese nationale Versöhnung.

Wo es solche Differenzen gibt, haben sie nicht zu Spaltungen geführt. Außerdem ergreift die Partei dann dringende Maßnahmen zu ihrer Beilegung - vor allem durch Versöhnung, Kritik und Selbstkritik. Insbesondere Präsident Nadschibullah hat bei Kadern und einfachen Parteimitgliedern eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet, um sie von den Fehlern der früheren Politik zu überzeugen.

Und was ist mit den Versorgungsproblemen?

Wir haben einige Probleme bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln, zum Beispiel Zucker, und mit Energie außerdem machen uns die steigenden Preise zu schaffen. Aber eigentlich gibt es nicht zuwenig Lebensmittel, was nicht funktioniert, ist der Transport. Wenn die Wagenkolonnen mit den Lebensmitteln nicht von den gegnerischen Gruppen angegriffen, zerstört und geplündert würden, dann hätten wir kein Versorgungsproblem. Sie legen Bomben und feuern mit Raketen, um unschuldige Menschen zu töten, um Terror und Panik unter den Menschen zu verbreiten. Aber diese Praktiken fallen zunehmend auf ihre Urheber zurück. Die Leute drücken zunehmend ihre Abscheu gegenüber diesen Gruppen aus, die Bombenanschläge und Raketenangriffe auf zivile Ziele verüben. Ihre Glaubwürdigkeit als „heilige Krieger“ haben diese Gruppen immer mehr verloren. Nun werden sie als Terroristen und Mörder bekannt. Im letzten Jahr waren wir in einer schwierigen Situation: Einerseits zogen die sowjetischen Truppen ab, andererseits gab es einen sehr strengen Winter, und wir hatten nicht genug Nahrungsmittelvorräte. Trotzdem gab es keinen Aufstand der Bevölkerung und keine Proteste. Diese Jahr wird die Regierung alle Anstrengungen unternehmen, um die Bevölkerung mit dem Notwendigen zu beliefern. Wir legen nun mehr Gewicht auf die Versorgung der Bevölkerung mit Energie und Lebensmitteln als auf das Beliefern der Front. Und deshalb sind wir auch sicher, daß die Bevölkerung nicht revoltieren wird.

Wie wollen Sie es durch Ihre Versöhnungspolitik schaffen, islamischen Glauben und islamische Traditonen mit progressiver gesellschaftlicher Veränderung, gar mit revolutionärer Politik zu verbinden?

Der Islam ist nicht gegen Fortschritt und Veränderung. Er lehrt uns eine sehr gute Art des moralischen Fortschritts. Es gibt aber Leute, die den Islam verunstalten, die aus ihm etwas anderes machen. In Wirklichkeit befindet sich der Islam im Widerspruch zum Fundamentalismus und zur Diskriminierung. Bis zum Auftreten solcher Männer (der Fundamentalisten unter den Mudschaheddin, d.Red.) haben wir nie Probleme gehabt, wenn wir Schulen eröffnet oder die Industrie gefördert haben. Auf dem Land überbrachte die Bevölkerung der Regierung sogar schriftliche Bitten, man möge ihnen Krankenhäuser, Schulen oder Straßen bauen. Ja, sie haben sogar Geld gespendet, damit solche öffentlichen Einrichtungen gebaut werden konnten. Und einer der größten Wünsche der Leute auf dem Land war, daß ihre Söhne in Kabul studieren können. Das afghanische Volk war nie dagegen, daß auch Mädchen studieren oder dies sogar im Ausland tun. In allen afghanischen Provinzen gibt es Mädchenschulen allerdings getrennt von denen der Jungen. Das ist afghanische Tradition, die auch wir befürworten, weil sie den Gefühlen und dem Charakter unserer Gesellschaft entspricht. Doch auf der Universität herrscht Koedukation.

In der westlichen Proviz Ghor habe ich mit früheren Mudschaheddin gesprochen, die inzwischen ein Abkommen mit der Regierung geschlossen haben. Und da sieht es mit der Gleichberechtigung der Frauen nicht so gut aus.

Die Situation hat sich unglücklicherweise verändert. Jetzt propagieren Saudi-Arabien und die Fundamentalisten aus Pakistan, der Islam sei in Gefahr. Und daher haben die Menschen Angst, der Staat könnte Maßnahmen ergreifen, die dem Islam widersprechen. Wenn diese leute nicht eine solch negative Propaganda gegen uns entfaltet hätten - warum sollten die Leute gegen uns aufgebracht sein? Wir sind alle Moslems, wie unsere Väter und Vorwäter. Aber sie behaupten , wir seien Ungläubige, Atheisten. Doch das, was die Fundamentalisten erfunden haben, wird von den Menschen nicht akzeptiert. Hekmatyar ist beispielsweise gegen die Berufstätigkeit von Frauen in Behörden und Fabriken. Sie können in unserem Fernsehen feststellen, daß Frauen dort als Ansagerinnen oder in anderen Funktionen arbeiten, und zwar unverschleiert, Frauen nehmen dort auch an musikalischen Darbietungen teil. Aber all das, was unserer Gesellschaft und dem Islam fremd ist, wird von unserem Volk nicht akzeptiert. Das Volk weiß, wie es seine religiösen Rechte wahrzunehmen hat.

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