: Sprießende Pickel gestochen scharf
■ Ein Markt von 500 Milliarden Mark / Statt röhrendem Hirsch nun Alexis und J.R. / Das Fernsehen der Zukunft wird an die Wand projeziert
Berlin (ap) - Watzmann und röhrender Hirsch haben ausgedient: Was bisher die Wohnzimmerwand veredelte, soll nun aufs Altenteil. Der Platz wird gebraucht - fürs Fernsehen im Superformat. Bald sollen sich Denver-Alexis und Dallas-J.R. nicht mehr auf ihren Platz im Herzen der Zuschauer beschränken, sie beanspruchen Platz im Zimmer eine ganze Wand. Mit dem neuen hochauflösenden Fernsehen HDTV ist die Zeit des Bildschirms vorbei: Das Programm soll mindestens im Format 90 zu 160 Zentimeter auf die Wand projeziert werden. Gestochen scharf und in Filmqualität.
Dem Fortschritt muß der Zuschauer natürlich Tribut zollen: Aus ist es mit dem lässigen Bügeln während des Tatorts, vorbei mit dem Brötchenschmieren beim Frühstücksfernsehen. „HDTV füllt den Raum aus, das ist wie im Kino, da werden Sie so ins Geschehen einbezogen, daß Sie nebenher garantiert nicht mehr zum Bügeln kommen“, prophezeit Horst Przybyla von der Firma Sony. Hollywood im Wohnzimmer. Dafür muß der Zuschauer natürlich zahlen: 8.000 bis 9.000 Mark sollen die neuen Empfänger kosten. Wenn es sie denn einmal gibt. Denn noch sind die HDTV-Geräte nicht auf dem Markt. Der Streit zwischen Japanern, Europäern und den USA um eine internationale Übertragungsnorm hält die Industrie auf. Deswegen rechnen viele auch erst 1995 mit der Einführung des neues Fernsehens.
Doch die wird dann „revolutionär“, sagt zumindest Przybyla. Denn nicht nur das Wohnzimmer hat sich umzustellen, auch die Fernsehsender selbst. Tagesschau und heute, Videoclips und Frühstücksfernsehen eignen sich nicht mehr für die HDTV-Ausstrahlung. „Köpcke im Großformat ist sicher kein besonderes Seherlebnis“, begründet der Techniker. „Und im Großformat von HDTV werden Ihnen die Bilder von Videoclips so um die Ohren gehauen, daß nach fünf Minuten selbst der härteste Jugendliche leidet.“ Vom treuesten Fernsehpublikum, den Omas, gar nicht zu sprechen.
Die Sender werden sorgfältiger und sauberer produzieren müssen. Bei Testsendungen liefen die Verantwortlichen rot an, als sie plötzlich auf den Kulissen Staub und auf dem Boden Zigarettenstummel sahen. Die verschwanden bisher gnädig auf dem Weg vom Studio bis zum Zuschauer im Zwielicht. Das soll es dann nicht mehr geben. Was bisher als Ziegel-Pappwand seine Dienste im Studio tat, müßte bei HDTV sorgfältig gemauert und gemalt werden. Die Kostüme, die Beleuchtung, alles müßte an Filmniveau heranreichen. Auch die Schauspieler. Schon haben Ansagerinnen Alpträume vor dem über Nacht sprießenden Pickel auf der Nase, der dann gestochen scharf in voller Röte live in die Wohnstuben übertragen wird.
Wer den Pickel genau sehen will, kommt um ein neues Farbfernsehgerät nicht herum. Etwa ab 1995 sollen sie auf dem Markt sein. Doch die Verbraucher brauchen keine Angst zu haben: Der im vergangenen Jahr gekaufte Fernseher muß nicht auf den Müll. Die Rundfunkanstalten sind verpflichtet, die Grundversorgung zu gewährleisten. Tagesschau und heute werden also noch lange, bis über das Jahr 2000 hinaus, auf dem normalen Gerät zu empfangen sein. Arne Ohlendorf vom technischen Stab des Zweiten Deutschen Fernsehens beruhigt die Zuschauer: „Die Einführung von HDTV wird noch viele Jahre dauern. Vor dem Jahr 2000 ist nicht damit zu rechnen.“
Doch dann setzen die Hersteller auf einen riesigen Markt: 500 Milliarden Mark wollen sie nach den Worten eines Industrievertreters dann weltweit scheffeln. Denn der Markt für Fabrfernsehgeräte ist gesättigt. Von den 26 Millionen Haushalten haben 23 Millionen mindestens ein Fernsehgerät. „Wir geben es offen zu: Wir müssen diesen Markt neu bestücken. Sonst können wir nicht mehr leben. Sonst können wir die Fabriken zumachen“, sagt Przybyla von Sony. Die Überlebenshilfe soll aus dem Geldbeutel der Zuschauer kommen.
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