: Hinter dem Garten war die Mauer
■ Die Szene in Ost-Berlin war keine Alternative, um der Enge zu entkommen / „Typisch deutscher“ bürokratischer Hürdenlauf bis zur Einbürgerung: „Alles die gleiche Soße“
„Sie sind in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, um im freien Teil Deutschlands leben zu können. Für diese Freiheit haben Sie Entbehrungen und Belastungen auf sich nehmen müssen“, heißt es im „Wegweiser für Übersiedler aus der DDR“ zur Begrüßung. Und weiter: „Aber Sie sind Deutsche in Deutschland geblieben. Die Bundesrepublik hilft Ihnen beim Start in ein neues Leben.“ Alle Ex-DDRlerInnen, die zum ersten Mal im Westberliner Aufnahmelager Marienfelde vorstellig werden, bekommen diese kleine Broschüre in die Hand gedrückt. Als Herausgeber zeichnet der Bundesminister des Inneren.
Silke (Name von der Redaktion geändert) sind diese pompösen Worte sichtlich unangenehm. Vor ein paar Tagen ist sie nach West-Berlin gekommen - „legal“ mit einem Ausreiseantrag. Aufgewachsen ist die 22jährige in einer Kleinstadt am Rande von Berlin - hinter dem elterlichen Garten verläuft die Mauer. Noch in der Schulzeit zieht sie von zu Hause aus und findet für ein paar Monate Unterschlupf bei „Aussteigern“ auf einem Bauernhof, die am Rande der kleinen Stadt alternative Lebensformen ausprobieren. Bald hält Silke die kleinstädtische Enge nicht mehr aus; sie geht nach Ost -Berlin und nimmt dort eine Lehrstelle als „Facharbeiter für Schreibtechnik“ (Sekretärin) an. Sie lebt in einer Wohngemeinschaft am Prenzlauer Berg, bewegt sich in der Alternativszene, engagiert sich für das erste Ostberliner „Frauenzentrum“ und gehört der Initiative „Frauenbibliothek“ an. Silke ist kaum volljährig, als sie ihren Ausreiseantrag stellt. Vier Jahre muß sie warten, bis man sie ziehen läßt. Doch zum Schluß geht alles sehr schnell. Für ihren „Laufzettel“, der die „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“ einleitet, hat sie zwei Tage Zeit. Für die notwendigen Stempel rennt sie von Behörde zu Behörde. „Es war wie Sterben, wie nach dem Tod meiner Oma, die wir auch überall abmelden mußten.“ Drei Tage später bekommt sie ihre Ausreisepapiere; bis um 24 Uhr muß sie die DDR verlassen haben. Zurück bleiben die Eltern, die Freundinnen, der Freund.
Zeit zum Nach-Denken bleibt Silke wenig. Denn zunächst gerät sie erneut in die Mühlen der Bürokratie, „Typisch deutsch, alles die gleiche Soße“, stellt sie sarkastisch fest. Die erste Woche ist sie damit beschäftigt, ein „jemand“ in der BRD zu werden. Im Aufnahmelager reiht sie sich in die langen Warteschlangen. „Wie ein Traumwandler“ passiert sie ein gutes Dutzend Stationen, vom ärztlichen Dienst über den Verfassungsschutz bis zur Meldestelle, bis sie ihren vorläufigen Personalausweis ausgehändigt bekommt. Während der Wartezeit lernt sie andere Leute kennen. Einen jungen Mann zum Beispiel, der zehn Stunden auf dem Bauch über die ungarisch-österreichische Grenze robbte. Jetzt klingt seine Geschichte schon wie ein spannendes „Let's go West„-Abenteuer. In den stickigen Wartezimmern und Gängen wird geschimpft über die Bürokratie: „Das ist ja schlimmer als bei uns.“ Von vielen schräg angesehen werden die zahlreichen Polen und Polinnen; manch einer will wissen, daß „die hier gar nicht bleiben, sondern nur ihre Entschädigung abholen und dann wieder abhauen“. Und außerdem bekommen sie 800 DM pro Person, anstatt 200 DM „Begrüßungsgeld“ wie Ex -DDRlerInnen. Das nährt den Neid und den Rassismus.
Im Angesicht klingelnder Nummernanzeigen werden die wichtigsten Informationen darüber ausgetauscht, wo welches Geld beantragt werden kann, wie an einen „C-Ausweis“ für politisch Verfolgte heranzukommen ist und damit an erhebliche finanzielle Vorteile, für wen es lohnt, sich zunächst wegen „DDR-Macke“ krankschreiben zu lassen, wer besser mit einem Antrag auf Arbeitslosengeld fährt, wie man einen Wohnberechtigungsschein mit Dringlichkeit bekommt. Auch für Silke stellt sich wie für viele die bange Frage, ob sie in West-Berlin bleiben darf oder nach „Wessiland“ abgeschoben wird. Da sie aus Ost-Berlin kommt und außerdem in West-Berlin einen Verlobten nachweisen kann, darf sie in der Mauermetropole bleiben, wo sie sich „keinen Moment fremd gefühlt“ hat.
kasch
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