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Johannes Rau auf Versöhnungsreise

„Herr Ministerpräsident, was bewegt sie persönlich am Vorabend des 1.September?“ Johannes Rau, erst vor ein paar Stunden am Mittwoch in Polen gelandet, antwortet so: „Ich habe die Einladung gern angenommen, obwohl ich verstehen könnte, wenn die Polen am 1.September keine deutschen Gäste hier haben und mit ihrem Schmerz und Stolz allein sein wollten.“ Mehr offenbart Rau, der als höchster Repräsentant aus der Bundesrepublik in Warschau an den Gedenkfeiern teilnimmt, von seiner Gemütslage auf die Frage eines amerikanischen Kollegen nicht. Kein polnischer Journalist, der an diesem Punkt nachgefragt hätte.

Eine Szene, die charakteristisch für den gesamten Besuch werden sollte. Der Blick zurück findet zwar statt, beschäftigt die Menschen aber wesentlich weniger, als anläßlich des markanten Jahrestages hätte vermutet werden können. Von Rau wollen die polnischen Journalisten nach dessen Gespräch mit dem neuen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki eher Handfestes hören. Welche konkreten Projekte werden verwirklicht? Wieviel Kredite und Bürgschaften wird die Bundesrepublik Deutschland kurzfristig zur Verfügung stellen?

Rau muß passen. Die Verhandlungen zwischen Bonn und Warschau über Kredite, Hermes-Bürgschaften und Umschuldungsprogramme kommen nur mühsam vorran - ein Länderregierungschef kann daran nicht viel ändern. Auch die Rau begleitende Wirtschaftsdelegation kann mit neuen Abkommen und Kooperationsverträgen nicht dienen. „Wir können hier nicht das Geld unserer Aktionäre verschenken“, sagt Klöckner-Chef Jörg Henle. Erst müßten die Rahmenbedingungen stimmen, und die könne Bonn durch eine schnelle Entscheidung über die Hermes-Bürgschaften wesentlich verbessern.

Für Rau bleibt da im wesentlichen verbale Unterstützung: Die neue polnische Regierung brauche „eine wirkliche Chance“ und sei auf „Hilfe angewiesen“, die die Bundesrepublik „weitreichend“ und „großherzig“ gewähren müsse. Die Erwartungen an die ökonomische Unterstützung aus der Bundesrepublik beschreiben Delegationsmitglieder als „dramatisch hoch“.

Das polnische Volk wartet auf schnelle wirtschaftliche Fortschritte. Zwar künden Plakate, Transparante und Hunderte von ausländischen Besuchergruppen in der Warschauer Innenstadt von den Gedenkfeiern zum 1.September, aber die Warschauer Bevölkerung scheint die Veranstaltungen seltsam teilnahmslos über sich ergehen zu lassen. Die feierliche Kranzniederlegung am Grabe des Unbekannten Soldaten verfolgen am Donnerstag abend nicht mehr als 2.000 bis 3.000 von ihnen live.

„Die Polen sind müde“, lautet die weitverbreitete Erklärung, die die Warschauer unterschiedlichster Coleur anbieten. Eine unmittelbare Folge des dramatischen wirtschaftlichen Niedergangs. Viele Polen haben inzwischen zwei Jobs, arbeiten statt 8 bis zu 14 Stunden am Tag. Die Bewältigung des Alltags raubt ihnen sämtliche Energien.

„Die Zeit der Gesten vorbei“

Das Gedenken an den 50.Jahrestag tritt da in den Hintergrund. Ein Kollege, Janusz Tycner von der Illustrierten 'Prawo i Zycie‘ (Recht und Leben), drückt es so aus: „Die Zeit der Gesten ist vorbei. Jetzt sind Taten wichtiger.“

Bei der Gedenkfeier im Wald von Palmiry, wo Ministerpräsident Johannes Rau am Morgen des 1.September spricht, sind solche Stimmen nicht präsent. In Palmiry wurden nach dem Krieg 1.700 Leichen exhumiert - alle ermordet von der deutschen Gestapo. Die größten Exekutionen fanden im Juni 1940 im Rahmen der Aktion zur Ausrottung der polnischen Intelligenz statt. Mit Rau treffen 800 Jugendliche aus Nordrhein-Westfalen an der Gedenkstätte ein, die im Sonderzug nach Polen gereist sind. Sie werden auf der polnischen Seite von den staatlichen Jugendverbänden empfangen. Rau hat die Schirmherrschaft über die „Versöhnungsfahrt“ übernommen.

Gefragt nach ihren Motiven für diese Fahrt, kommt von den deutschen Jugendlichen immer die gleiche Anwort. „Wir wollen zur Versöhnung beitragen. Am 1.September wollen wir ein Zeichen des guten Willens setzten und persönliche Verantwortung übernehmen“, sagt eine 14jährige Schülerin aus Arnsberg. Wichtiger als die eigentliche Gedenkveranstaltung ist für die meisten der folgende mehrtägige Aufenthalt in Warschau mit polnischen Jugendlichen, womöglich die beste Form, um, wie von Rau in seiner Rede gefordert, zum Abbau von Vorurteilen beizutragen.

In Palmiry wendet sich Rau gegen das „unklare Stimmengewirr in der Bundesrepublik“ um die polnische Westgrenze. Seine Klarstellung, „wir stellen keine Gebietsansprüche, wir rühren nicht die Trommel des Vorbehalts“, nehmen die polnischen Offiziellen und auch der polnische Primas Glemp ebenso dankbar auf wie seine erneute Versicherung, daß jetzt „Hilfe gefragt“ sei.

Die Zeit drängt. Der neue Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki spricht davon, man müsse in einem Jahr erfolgreich sein. Der Fraktionschef des Bürgerkomitees Solidarnosc im Parlament, Bronislaw Geremek, glaubt gar, daß das Grundvertrauen der Bevölkerung in die künftige Regierung nur zu gewinnen und zu sichern sei, wenn die Erfolge schon nach einigen Monaten sichtbar würden.

Ministerpräsident Mazowiecki hat gegenüber Rau die „die dringende Bitte“ geäußert, daß der Besuch des Bundeskanzlers bald zustande komme. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, ein paar Tage vor Rau auf Pilgerreise in Polen, hat diesen Wunsch auch schon entgegengenommen. Bei den Spitzenleuten der Solidarnosc genießt Blüm hohes Ansehen. Schon früher, als Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, hat er intensiven Kontakt zu Lech Walesa aufgenommen - als die meisten aus der SPD-Führung die Begegnung mit Polens Opposition noch ängstlich mieden.

Die Düsseldorfer Sozialdemokraten sind allerdings stolz darauf, schon damals einen deutlich anderen Kurs gefahren zu haben. Entsprechend wohlwollend nehmen die Solidarnosc-Leute Rau auf. Für das lang andauernde „miserable Verhältnis zwischen der SPD und Solidardosc“ machen die Düsseldorfer Genossen die Bonner Baracke verantwortlich, die die polnische Opposition „sträflich vernachlässigt und den Anschluß verpaßt habe“. Während die NRW-SPD 1982 Patenschaften zu 250 internierten Solidarnosc-Anhängern geknüpft und eine Solidaritäts-Ausstellung organisiert hatte, durfte die Ausstellung in der Baracke nicht gezeigt werden. Rau wurde vom neuen polnischen Ministerpräsidenten „als unser Freund“ empfangen. Es scheint, daß das die SPD inzwischen wieder Boden gutgemacht hat.

Walter Jakobs (Warschau)

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