STRASSEN - LÄNGER ALS EIN LEBEN

■ Fremde Blicke auf das Berlin der Zwanziger

Berlin verdankt sein Dasein und seine Aufgabe den Stauungen der großen Verkehrsströme, die es durchfließen, es ist ein Konglomerat von Kopfbahnhöfen“: Diesem Anfang der 20er Jahre von Alphons Paquet abgegebenen Diktum läßt sich bereits das (Leid-)Wesen der Stadt anhören, das die Berlinreise schon damals zugleich zwingend erscheinen und zu einer mißlichen Sache geraten läßt. Daß Berlin, wie Karl Scheffler sagte, „dazu verdammt ist, immer zu werden, niemals zu sein“, ein „in die Existenz gehobenes Nonexistentes“ für Wilhelm Hausenstein, „Angkor im Urwald, zu dem die Reisen Expeditionen sind“, sogar im Munde des Wahlberliners Gottfried Benn, scheint die Reisenden, ähnlich wie heute, nicht abgehalten, vielmehr zwangsläufig, wie gegen ihren Willen, hierhergeführt zu haben. „Diese Stadt ist ein Magnetblock, der Metallstaub anzieht...“, stöhnt der reisende Provinzmann. „Wie eine dumpfe Naturmacht ist diese Stadt da. Das dreiviertel Dutzend Fernbahnhöfe, welche sie wie gegen das Reich gerichtete Saugnäpfe in ihrem Bauch sitzen hat, sind nur stoffliche Symbole“ (Hans Heinich Erler, Meine Fahrt nach Berlin, 1929). Dem Provinzmann bleibt ja keine andere Wahl, versucht Joseph Roth zu erklären, da die Provinz erst dank dieser „Hauptstadt ihrer selbst“ zur Existenz gelangt, da Berlin als „Inbegriff der Stadt“ dem flachen Land überhaupt erst Leben, Sprache, Sitten usw. schenkt. (J. Roth, Die Flucht ohne Ende, 1927)

Angesaugt und anmagnetisiert, findet sich der Reisende plötzlich in der „Hauptstadt ihrer selbst“ vor und muß nun eben erfahren: „Wer du auch seist, in einem täusche dich nicht. Du bist nun zwar da, wo du hinwolltest, aber angekommen bist du nicht. Unter uns gesagt, man kann gar nicht ankommen in Berlin. Vor allem, komm rasch aus diesem Bahnhof. Du machst dich nur lächerlich mit deinem Ankunftsgesicht und diesem Blick, als käme gleich wer weiß was. Dein Koffer ist schon peinlich genug. Nichts wird kommen, und am besten mischst du dich ganz unauffällig unter die Leute. Deine Erwartung macht dich unausstehlich. Berlin, wie es selbst ein „ungeheures Nomadenlager“ ist, „das seine Schwerpunkte dauernd verschiebt“ (Heinrich Hauser, Drei Ringe um Berlin, 1932), hat keine Geborgenheit zu bieten, nur anhaltende Mobilität. So hatte schon Frank Wedekind gesagt: „Berlin ist keine Stadt, in der man selig werden kann... Hat Gott den Menschen geschaffen, damit er sein halbes Leben auf der Stadtbahn versitzt? Berlin ist keine Stadt, sondern ein trauriger Notbehelf, Berlin ist ein Konglomerat von Kalamitäten“. Unter dem Pflaster liegt der Strand: Die Erfahrungen des Unfesten, Jahrmarkthaften, In -den-Sand-Gesetzten dieser Stadt muß seit jeher jeder Berlinreisende machen, eine „Karawanserei“ hat sie Marc Chagall in den 20er Jahren genannt.

Berlin war vor dem Krieg, ähnlich dem heutigen Paris, von einem Ring von Bahnhöfen umgeben, darunter dem Anhalter Bahnhof, den Walter Benjamin „die Mutterhölle der Eisenbahnen“ nannte. An diesem Anhalter Bahnhof kamen in den 20er Jahren all jene Menschenzüge aus dem Osten an, Österreicher, Ungarn, Polen und Russen, die, wie Paquet berichtet, die Bevölkerung zusehends dunkelhaariger werden lassen. „Die Anziehung Berlins auf den Osten ist sehr stark, seine Wirkung auf den Westen ist mehr die Abgabe als die Aufnahme. Der Beweis liegt in der zunehmenden Veröstlichung der Stadt.“ (Alphons Paquet, Die Stabilisierung Berlins, 1923). Die meisten Ostjuden sehen in Berlin freilich nur jenen Umschlaghafen auf ihrer Weiterreise nach Amerika, denn „kein Ostjude geht freiwiliig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt“: so der selbst immer unstete, zwischen Wien, Berlin und Paris hin und her pendelnde Joseph Roth. Allerdings seien „schon manche, die nur ein Durchreisevisum hatten, zwei bis drei Jahre in Berlin geblieben“ (Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, 1927).

„Als wir uns Berlin näherten, färbte sich der nächtliche Himmel rosarot, orange und grau. Ich dachte an den Himmel über dem brennenden Städtel und bewunderte den Widerschein des Lichtermeers, das die Wolken über der Riesenstadt illuminierte. Zum ersten Mal sah ich ein solches Farbenspiel, es war der allererste Eindruck, den ich von Berlin empfing.“ Manes Sperber, der 1927 von Wien nach Berlin reist, durchschaut bereits visionär die Ambivalenz dieses Fata-Morgana-Effekts, den jenes Berlin der 20er Jahre um sich zu erzeugen versteht (Die vergebliche Warnung - all das Vergangene). „Berlin leuchtet aus der Ferne wie ein riesenhaftes Zifferblatt“. bei Ilja Ehrenburg schwingt neben der Bewunderung ein leiser Tadel am preußisch-pedantischen des Berliner Lebens mit, vor dem er erschrickt, weil es „durchdacht ist wie ein Eisenbahnfahrplan“. Nur Fernand Leger, der in der elektrischen Helle das Wesen der Moderne zu entdecken glaubt, bricht bei seinem Berlinbesuch 1928 in Jubel aus: „Berlin ist modern, modern durch sein Licht, das heißt seinem Kampf gegen die Nacht. Bin jetzt acht Tage in Berlin: habe nichts von der Nacht. Licht um sechs, um Mitternacht, um vier Uhr, unaufhörliches Licht. Paris wirkt wie eine Stadt aus intermittierendem Grau. Berlin ist ein einziger Lichtblock... Die entsetzliche wilhelminische Architektur verschwindet, aufgesaugt, maskiert, absorbiert von Elektrizität. Die Stadt ist wie eine scharfe Säure, alles ist viel zu neu, das Auge wird müde vom Übermaß an Intensität“ (Voyages d'artiste, 1928).

Leger huldigt dem „neuen Abgott Reklame“ ebenso wie der luxemburgische Schriftsteller Norbert Jaques, Verfasser der Mabuse-Romane, den dennoch angesichts der städtischen Hybris ein gewisses Schaudern überkommt: „Und über den Orgien von Licht, Farbe, Grelle, Raschheit und Unermüdlichkeit stand etwas Grämliches, das funzelig trübselig gloste; es schien ungewaschen zwischen den Wolken herab, die sich den Schein eines dämonischen Fluges gaben und doch nur in das brandige Licht geklebt waren. Es war der Mond. Ja, ich erschrak. Der Mond über dem Kurfürstendamm! Gott, von Menschen übertrumpft...“ (Norbert Jaques,Im Wirbel der Welt Erlebnisse, Berichte, Begegnungen). Der ungewohnte Signalcharakter der Stadt begeistert sogar die distinguierten Herren wie den englischen Botschaftsrat in Berlin, Sir Harold Nicolson, Ehemann der Schriftstellerin Vita Sackville-West, der darin sogar eine Art Verjüngungskur gefunden zu haben scheint: „Was eigentlich gibt denn dieser Stadt ihren Charme? In erster Linie das Tempo. Keine Stadt ist so ruhelos wie Berlin. Alles in Bewegung. Die Verkehrsampeln wechseln unaufhörlich von Rot auf Gelb und dann Grün. Die Lichtreklamen blitzen auf und verlöschen pathetisch blinkend wie Leuchtfeuer an der Meeresküste. Straßenbahnen schaukeln klingend um die Kurven... Die Nachtluft, in der selbst die Turmhelme der Gedächtniskirche vor Erregung flackern, ist vom Pulsschlag neuer Erwartungen durchzittert. Jedermann weiß: Berlin wacht jede Nacht neuen Abenteuern entgegen. Jedermann fühlt, wie schade es wäre, zu Bett zu gehen, bevor das Erwartete oder Unerwartete eintrifft. Jedermann weiß, am nächsten Morgen, komme, was wolle, fühlt man sich wieder wie neugeboren“ (The charm of Berlin, in: Der Querschnitt, 1928).

Wie Berlin erst in der städtisch erhellten Nacht zu seinem wahren Wesen findet, so ein Dadaist wie der von Zürich nach Berlin übergesiedelte Richard Huelsenbeck zu seiner wirklichen Kunst: „Wir huren hier herum, um die Tauentzienstraße, wir trinken, auch sitzen wir manchmal in Tavernen und den Liqueurstuben, zwei Tage lang, bis uns die Polizei hinauswirft. Wir halten alles das für Expressionismus, da wir weniger auf die Bilder sehen als auf den Lebensstil. Wir wollen ein neues Leben, wir wollen eine neue Aktivität, wir wollen eine neue Hautfarbe, vielleicht eine neue Bügelfalte, vielleicht auch ein neues Steuergesetz...“ Das Berliner Nachtleben wirkt ebenfalls künstlerisch befreiend auf den jungen Elias Canetti, der, dem Karl Krausschen „Rachen der Tyrannis“ entflohen, sich im Umfeld des Malik-Verlages „wehrlos dem Sündenbabel ausgeliefert“ sieht; der Städteporträtist Raymond Recouly übertrumpft dank ähnlicher Erfahrungen seinen Landsmann Voltaire, der der Stadt im Dunstkreis Friedrich des Großen nur die Auszeichnung „Spreeathen“ verleihen konnte, mit der Apostrophierung Berlins als „Sodom und Gomorrha an der Spree“.

Die meisten dieser Nachtschwärmer wohnen und leben in einer der zahlreichen Pensionen des Berliner Westens zwischen Friedrichstraße und Kurfürstendamm, wo diese nächtliche Drehorgel kreist; hier befinden sich die Cafes, Kabaretts und Kneipen, hier ist die Schwulen- und Lesbenszene, die so manchen in Entzückung versetzt: „Ich war im siebten Himmel! In Berlin zu sein, bedeutet an sich schon ein erregendes Abenteuer! Die prosaischen Avenuen und öden Plätze, alles schien mir zauberhaft belebt, voll von lockendem Geheimnis. Wie köstlich, diese Straßen entlang zu bummeln, mit deren Namen sich mir die Vorstellung von sündigem Hochbetrieb und großer Welt verband: Friedrichstraße, Unter den Linden, Tauentzienstraße, Kurfürstendamm... Die Romantik der Unterwelt war unwiderstehlich. Berlin enthusiasmierte mich durch seine schamlose Verruchtheit“: Dieser „Enthusiasmierte“ ist der 1923 zum ersten Mal die Stadt besuchende Klaus Mann. Nicht nur ihm hat die Stadt ganz schön den Kopf verdreht; bei dem Dichter Manfred Hausmann löst schon die Beobachtung eines Autobusses eine tiefe Erschütterung aus: „Nimm so einen modernen Autobus, der in einer Regennacht zwischen den Straßenbahnen und gewöhnlichen Autos mit seinen erleuchteten Stockwerken wie in rollendes Haus über den Asphalt dröhnt, das ist ein Anblick, der mir durch Mark und Bein geht...“ (Manfred Hausmann, Lampioon, 1928).

Erst recht weiß Lion Feuchtwangers Provinzmann Herr Heßreiter nicht mehr, wo ihm sein bayerischer Schädel sitzt: „In seinem fleischigen, romantischen Bild von einem Stückchen des Globus, gelegen 13 Grad 23 Minuten östlicher Länge über dem Meeresspiegel, ursprünglich von Slawen besiedelt und Berlin genannt, jetzt ausgestattet mit Millionen Schächten, Röhren, Leitungen, Kabeln unter der Erde, mit endlosen Häusern und wimmelnden Menschen auf der Erde, mit Antennen, Drähten, Lichtern, Funktürmen, Flugzeugen in der Luft“ (Erfolg, 1930). Aber auch besonnenere wie Manes Sperber sprechen von der Einzigartigkeit des damaligen Berliner Lebens: „Nicht in Jahren lebte ich da, sondern in Tagen und Nächten, in Stunden - so dicht folgten einander Tun und Geschehen... Das lag nicht nur an mir, sondern an der Stadt, wie sie damals war. Die Berliner, die eingeborenen wie die zugewanderten, schienen ... unerschöpfliche Energien zu entwickeln, sie nahmen jeden Tag aufs neue den höchst spannenden, begeisternden Wettlauf mit der Zeit auf.“

Vielleicht hat keiner eine schönere Allegorie für die unbeschwerte Seite des Berlinbesuchs gefunden als Harold Nicolson: „Berlin ist ein Mädchen im Pullover, nicht sehr gepudert, den Hölderlin in der Tasche, mit den Hüften einer Atalanta, einer nicht ganz verdauten Erziehung, einem Herzen, das beinahe immer zu schnell sympathisiert, und einer Großzügigkeit der Ansichten, die unsere Scheu vor allem, was vielleicht giftig daran sein könnte, einfach wegzaubert und unsere Korrektheit beschämt. Mit ihr spaziert man durch Licht und Schatten. Und nach einer Stunde etwa Hand in Hand“.

Nicht jeder Fremde hat Berlin indes als leichtlebige Kokotte erlebt. Es gibt Schilderungen der Kehrseite, in diesem Fall der Tagseite, wie des Boxers Max Schmeling, der 1926 bei seiner Einfahrt in die Stadt weniger Berauschendes erblickt: „Durchgerüttelt von einer Zehn-Stunden-Fahrt, die Glieder schmerzend und übermüdet, fuhr ich an einem Vorsommer-Morgen des Jahres 1926 in Berlin ein... Bald tauchten die ersten Hinterhöfe auf, geschwärzte Hauswände mit verwitterten 'Urbin'- und 'Morgenpost'-Reklamen, immer wieder unterbrochen von kleinen Gartenstücken mit zusammengezimmerten Wochenendlauben und Gemüsebeeten. In den Fenstern der Häuser, die vorüberzogen, standen vor grauen Gardinen Geranientöpfe, hier und da auch ein Tomatenstock. Die glanzvolle Reichshauptstadt präsentierte sich dem Zureisenden, wie alle Großstädte, aus der Gleisperspektive ärmlich, grau und verschmutzt. Es war halb sechs Uhr morgens“ (Erinnerungen). Auch von Christopher Isherwoods Balkon sieht sie, bei Tage betrachtet, nicht gerade einladend aus: „Unter meinem Fenster die düstere Straße, eine massive Pracht, Kellerläden, in denen tagsüber das Licht brennt, im Schatten gewaltiger, balkongeschmückter Fassaden, schmutziger Stuckfronten mit hervorquellenden Schnörkeln und heraldischen Symbolen. Das ganze Viertel so, straßauf, straßab Reihen von Häusern, gleich schäbigen Riesengeldschränken, die vollgestopft sind mit verblichenen Kostbarkeiten mit zweitklassigen Möbeln einer bankrotten Mittelschicht“ (Lebwohl Berlin, Tagebuchaufzeichnungen, 1929).

Über die „Straßen, die länger als das Leben sind“, stöhnt der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, „wo es viel Stein gibt und keine Architektur, wo alles Gemütlichkeit ist und das Leben doch so ungemütlich“ - dem steht direkt Fernand Legers Credo der Moderne entgegen: Er sieht in Berlin bereits die Entrümpelung am Werk und eine neue Architektur vor der alten entstehen: „Die Häuser werden abgekratzt ... vielleicht die erste moderne Stadt auf dem Kontinent. Da riecht nichts nach Mittelalter, geschweige denn Louis treize, -quatorze, -quinze und so weiter...“ Dennoch ist die Beobachtung des englischen Dichters Stephen Spender, der sich täglich um die Mittagszeit von der Motzstraße in die Nollendorfstraße begibt, um seinen Schriftstellerkollegen Isherwood abzuholen und aus den Häuserfronten nur den alten, militaristischen deutschen Geist herauslesen kann, zukunftsweisender geworden: „Ich verließ mein möbliertes Zimmer ... und ging an den riesigen Mietskasernen, deren Fassaden aus Backformen für riesige Betonbiskuits gepreßt schienen, vorbei zum Nollendorfplatz, einem Horst von Stuckadlern und verrußten Balkonen, von deren Busen sich verflossener Prunk abschuppte. Die Hochbahn hatte von dem Platz Besitz ergriffen, auch von den Straßen, die nach Westen durch die Tauentzienstraße über den Wittenbergplatz führen und nach Osten in noch schmierigere Gegenden, die sich doch noch immer als Vertreter preußischen Geistes aufspielten, mit ihren Wappentieren, Helmen, Schildern und den pausbackigen Hinterteilen waffentragender Putten. Ein alles durchsetzender Geruch hoffnungslosen Verfalls drang aus diesen Häusern wie aus dem Innern einer alten Pappschachtel“ (Welt zwischen Welten, 1930).

Das Miefige, Plumpe, Aggressive und Verdrängte einerseits, das Helle, Sachliche, Zuversichtliche und Aufgeklärte andererseits: wo Leger 1928 noch im Bauhausgeist die Moderne entstehen sieht, erblickt Spender 1930 nurmehr Zeichen des Verfalls. Widersprüchliche Aussagen - wie auch nicht, drängen sich doch sogar im Straßenbild die Extreme wie zu keiner anderen Zeit auf: „In Berlin schien diese Not und Erregung, diese Propaganda, die wir auf den Straßen und in den Kaffeehäusern mitansahen, mehr und mehr das ganze Leben der Stadt auszumachen, als gäbe es dabei kein Privatleben mehr. Berlin - das war die Geladenheit, die Armut, der Groll, die Käuflichkeit, die Hoffnung und die Verzweiflung, die auf die Straße gesetzt waren. Berlin, das waren die herausfordernden Protzen in den eleganten Lokalen, die Huren in Russenstiefeln an den Straßenecken, die verbissen blickenden, wie unter Wasser getaucht aussehenden Kommunisten mit ihren Kundgebungen und die verwegenen Burschen, die auf dem Wittenbergplatz aus dem Nichts hervorwuchsen und „Deutschland erwache!“ brüllten“ (S. Spender).

Über die krassen gesellschaftlichen Gegensätze und den Zynismus mancher Kreise empört sich auch die Schauspielerin Salka Viertel, Frau des Regisseurs Berthold Viertel, die, aus Galizien stammend, 1922 nach Berlin gekommen war: „Das Berlin des Jahres 1922 beherbergte viele, die es verstanden, die geschlachtete Kuh zu melken. Sie lebten in Cafes, Restaurants und Nachtlokalen aus dem vollen; hungernde Arbeitslose, Kriegskrüppel und bettelnde Kinder machten auf sie keinen Eindruck; Demonstrationen mit Transparenten „Nie wieder Krieg“ empfanden diese Kriegsgewinnler als Belästigung (wie sich die zeiten und die zweibeinigen lumpen gleichen. sezza). Rechtsradikale Organisationen wie die „Feme“ und die „Brigade Ehrhardt“ und Gustav Noskes Regimenter bereiteten diesen Aufmärschen und Versammlungen ein blutiges Ende; der geheime politische Mord an der „Linken“ machte sich breit“ (Das unbelehrbare Herz). Sogar dem französischen Botschafter Andre Fran?ois-d'Poncet wird angesichts der nationalsozialistischen Umtriebe mulmig zumute: „Erpresserblätter gaben sich ohne Scheu ihrem Machwerk hin.

Eines von ihnen, 'Fredericus‘, griff mit Vorliebe die französische Botschaft an, bezeichnete sie als Spionagezentrum, verschonte weder den Botschafter noch seine Gattin“ (Als Botschafter in Berlin, 1930-1938).

Die in Berlin lebende russische Avantgarde stößt sich ihrerseits weniger an den Anzeichen des aufkommenden Nationalsozialismus als an so besudelten Kommunistenbildern wie das Stephen Spenders: erschien ihr Berlin doch gerade zu „bürgerlich“, zu rückständig im Vergleich mit dem revolutionären Rußland. „Ich kann in Berlin nicht leben... Die Revolution hat mich verwandelt, ohne sie kann ich nicht atmen. Hier kann man nur ersticken. Bitter wie Karbidstaub ist die Berliner Schwermut“: Dieser von Viktor Schklowskij abgegebene Stoßseufzer könnte auch von seinen Dichterkollegen Wladimir Majakowskij, Andrej Belyi oder Marina Zwetajewa stammen. Sie, die glaubten ins Zentrum der deutschen Kultur gefahren zu sein, fühlten sich unbehaust in dieser Stadt „ohne Antlitz, trist, eintönig und ohne Lokalfarbe“, in „dieser verwahrlosten Kaserne mit eingeschlagenen Fenstern, die das runde Jahr kalte Nordwinde durchlassen“. Während Ilja Ehrenburg besonders das Kalte, Schematische des Berliner Lebens beklagt, das „automatenhafte Fußgänger“ und zu wenig Autos besitzt für das ausgeklügelte System an Verkehrsregeln, das „eine Ausstellung ist, ein riesenhaftes Modell, ein Stadtplan, wie man ihn im Traum sieht„ (Visum der Zeit, 1929), geht Andrej Belyi mit dem von ihm beobachteten Traditions- und Seelenverlust der preußischen Hauptstadt ins Gericht, mit ihrer Neigung, sich allem Modischen unbesehen an den Hals zu werfen. Belyi ist sich vermutlich nicht bewußt, in welches Horn er stößt, wenn er als Beispiele des Kulturverfalls nicht nur die Kriegsinvaliden, die vor den Luxusgeschäften der Tauentzienstraße betteln, Schwarzmarkt, Razzien und Prostitution anführt, sondern vor allem die „Negermusik“, die „herumstolzierenden Foxtrott-Tänzer“ und die „extravaganten Werke des Dadaismus und Expressionismus“, in denen sich aus seiner Sicht die europäische Kultur selbst aufhebt, „weil Exotik und Orient unmittelbar ans Tageslicht treten„ (Im Reich der Schatten, Berlin 1921-23).

Auch wenn aufgrund nationaler Voreingenommenheiten das Bild Berlins gelegentlich in die eine oder andere Richtung verzerrt wird, auch wenn Andrej Belyi die Schuld am Niedergang der deutschen Kultur der „Exotisierung“ zuschreibt und Ilja Ehrenburg im „aufgepropften Amerikanismus“ das Hauptübel auszumachen glaubt, so haben sie doch etwas Richtiges gesehen, wenn sie die deutsche „manische Neigung des Starrkopfs, Phantasten und Metaphysikers“ dafür verantwortlich machen, daß Berlin einem feinen Zeitdiagnostiker wie Stephen Spender schließlich „realer“ erscheint als jede andere Stadt: „Für mich war Berlin die reductio ad absurdum der Situation jener Zeit... Berlin war eine Stadt, wo Tradition zur Karikatur und zum Gespött wurde, wo Aktion nur verbunden mit Machtbegriffen vorstellbar war - einer enormen Macht zum Guten oder zum Bösen.“ Wohin sich diese „enorme Macht“ schließlich wenden sollte, wissen wir - wenige Jahre später ist die Reisemöglichkeit nach Berlin den meisten Fremden verwehrt. Aus der Hauptstadt Germaniens kann man nur noch fliehen.

Michaela Ott