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Kein Friede mehr in Friedland

Im völlig überfüllten Durchgangslager Friedland kommt es zu Spannungen mit der heimischen Bevölkerung / Täglich kommen mehrere hundert Übersiedler an / Lagerleiter Lindemann: Handgreiflichkeiten sind die Ausnahme  ■  Aus Friedland Reimar Paul

„Da vorn ist es am schlimmsten.“ Die 40jährige Frau wendet den Kopf in Richtung Raphaelstraße. „Da gibt es manchmal kaum ein Durchkommen.“ Die Raphaelstraße verbindet die Barackenunterkünfte im Westteil des Grenzdurchgangslagers Friedland mit den Verwaltungsgebäuden, dem sogenannten „Ostlager“. Die Grundstückseinfahrten, berichtet die Frau, seien dann mit Polski-Fiats und Ladas zugeparkt. Von dem Fußgängerbetrieb will sie „erst gar nicht reden“.

1.600 Aussiedler, mehr als zwei Drittel der gesamten Lagerbelegschaft, sind im „Westlager“ untergebracht. Mehrmals am Tag gehen sie zum Essen, zum Kleiderempfang, zum Erledigen der Paßformalitäten. Und sie nehmen den kürzesten Weg, über die Raphaelstraße, vorbei an den Vorgärten der Anlieger.

Um auf diese „Mißstände“ aufmerksam zu machen, haben Anwohner vor kurzem eine Bürgerinitiative gegründet. Sie beschweren sich auch über laute Musik, Pöbeleien und ständige „Altstadtfeststimmung“. „Jede Nacht wird hier unheimlich gesoffen“, zitiert eine Lokalzeitung ein Mitglied der Bürgerinitiative, und immer wieder gebe es Schlägereien.

Das wird von Lagerleiter Erich Lindemann bestritten. Allenfalls „ein- oder zweimal im Jahr“ komme es zwischen Aussiedlern und Anwohnern zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, „aber das sind nie irgendwelche Massenschlägereien, sondern da sind nur zwei oder drei Personen beteiligt.“

Auch andere von der Bürgerinitiative erhobene Vorwürfe hält Lindemann für überzogen und „hochgespielt“. Natürlich existieren Spannungen, „aber das ist doch auch erklärbar“. Erklärbar vor allem durch die „anhaltend hohe Anzahl von Aussiedlern, die täglich hier in das Lager einströmen“.

Zwischen zwei- und achthundert Menschen aus osteuropäischen Staaten kommen jeden Tag im Lager Friedland an. Allein im Juli waren es mehr als zehntausend. Über 90 Prozent der Aussiedler reisen den aktuellen Statistiken zufolge aus Polen ein, viele von ihnen als Touristen und mit dem eigenen Auto. Die lagereigenen Parkplätze können die Fahrzeuge nicht aufnehmen, und „so kommt es unweigerlich zu Belästigungen durch falsch abgestellte PKWs“ (Lindemann). Der Lagerleiter hofft, daß dieses Problem durch den Bau neuer „Zuwegungen“ in absehbarer Zeit beseitigt werden kann.

Auch das gute Wetter der letzten Wochen macht Erich Lindemann für das frostige Klima mitverantwortlich. Die zwanzig Quadratmeter großen Schlafräume seien überbelegt. „Bei der Wärme kommt es dazu, daß sich die Aussiedler mehr draußen aufhalten.“

Der Unmut vieler FriedländerInnen sitzt allerdings tiefer, wie Lagerpfarrer Ernst Achilles weiß. Der pensionierte Superintendent ist seit 32 Jahren im Lager tätig. „Die Polen beherrschen zum allergrößten Teil die deutsche Sprache nicht, kommen hier mit dem halben Hausstand an und machen keineswegs den Eindruck, daß sie arme Menschen sind. Sie werden hier mißtrauisch betrachtet und mit der Frage konfrontiert: 'Was wollt ihr hier eigentlich?'“

Lagerleiter Lindemann jedoch verneint vehement aussiedler oder gar ausländerfeindliche Tendenzen bei der Bürgerinitiative: „So was vertreten die in gar keinem Fall. Da nehmen die alle ganz klar Abstand von.“

Angesichts der wirtschaftlichen Vorteile, die das Grenzdurchgangslager der Gemeinde Friedland und ihren Bürgern gebracht habe, plädieren Achilles und Lindemann für mehr Toleranz und Gelassenheit im Umgang mit den Aussiedlern.

Mehr als 500 Menschen aus der näheren und weiteren Umgebung finden im Lager Arbeit. In den örtlichen Lebensmittelgeschäften müssen imer wieder die Türen zugesperrt werden, um den Andrang der Aussiedler, die hier ihre ersten freien Einkäufe tätigen, zu regulieren. Und selbst in der Raphaelstraße, aus deren Anliegern sich der „Kern“ der Bürgerinitiative rekrutiert, finden sich an den Fenstern Schilder mit der Aufschrift „Zimmer zu vermieten“. Denn eines muß man den Polen lassen: Sie haben viele Verwandte und Bekannte in der Bundesrepublik, die zu Besuch ins Lager kommen und oft auch über Nacht bleiben.

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