: Die Nation als Haus und als Kino
In Tbilissi im Kaukasus, Hauptstadt der subtropischen Sowjetrepublik Georgien, gingen zentrale UdSSR-Truppen am 9.April blutig gegen Demonstranten vor Seither versucht die Volksfront Georgiens in dem multinationalen Land zu vermitteln, ist aber selbst vom Nationalitätenzwist bedroht ■ Aus Tbilissi Barbara Kerneck
Das Kino und die Politik haben in Tbilissi eine gemeinsame Kathedrale gefunden: Seit dem 9.April ist das neugotische Gebäude des „Verbandes der Filmschaffenden“ mit seinem Campanile Zufluchtsstätte der nationalen Bewegung in Georgien. Heute nennt es sich „Stab“ der georgischen Volksfront. Auf den breiten Marmortreppen und schweren, geschnitzten Geländern lagern vier Stockwerke hoch Besucher aus allen Teilen des kleinen Gebirgslandes. Bis zu dreimal täglich finden hier Meetings und Informationsveranstaltungen statt, in dem großen Premierensaal - wo in den letzten 15 Jahren weltweit ausgezeichnete Filme georgischer RegisseurInnen wie Abuladse, Iosselani, Schengelaja und Gogoberidse getauft wurden. Im Vestibül hängen Plakate der Schwesterorganisationen: der Volksfront Lettlands und der litauischen „Sajudis“. Die Nachrichten werden aus dem Haus auf den Corso getragen. Anhänger und Deputierte der Volksfront bewerten ihre Schicksale von hier aus neu.
Die Kraft der Mitte
Die Gründung der Volksfront Georgiens erschien in einem Gewimmel von informellen Gruppen nach der Nacht vom 8. zum 9.April 1989 als letzte Rettung aus dem Chaos. Damals waren in der Sowjetunion zum ersten Mal in der Perestroikaperiode Truppen des Zentrums in Tbilissi blutig gegen die Autonomiebewegung einer Einzelrepublik vorgegangen. Es gab 20 Tote, vor allem Frauen. Als sich die Organisation dann Ende Juni offiziell konstituierte, prallten die Positionen hart aufeinander.
Es siegte das gemäßigte Programm des Volksfront-Präsidenten und Philologie-Professors Notar Natadse, das die souveräne Staatlichkeit Grusiniens als Teil eines langfristigen Entwicklungsplans aller dort lebenden Nationen anstrebt. An allen Ecken und Enden der Stadt Tbilissi wehte in jenen Tagen die Fahne des selbständigen georgischen Staates von 1918 bis 1921 - einer menschewistischen Republik.
Demonstration 1989/1900
Der Trauermarsch am dritten Tag dieses Kongresses, dem 24.Juni 1989, entfaltete ein Bild wie aus Bertoluccis 1900: Vor der Silhoutte endlos vertrocknender Hügel am Horizont erheben sich Fäuste zu dem Ausruf „Sakhartvelosy!“
-„Für Georgien!“ Da sind das Kreuz aus blutroten Rosen, das minutenlange Hupkonzert über der Stadt - die von den weinumrankten Balkonen gerührt Winkenden, die schwarzgekleideteten weinenden Mütter der Opfer des politischen Kampfes in den ersten Reihen.
Vor dem Regierungsgebäude erstarren die Fäuste minutenlang in drohender Wortlosigkeit, die Demonstranten lassen sich auf die Knie nieder, und das Schluchzen der Mütter schwillt proportional zur Stille der Menge an. „Vater Rostom“ liest ein Gebet, die Männer singen ein altes Lied aus den Bergen über den Tod - und wie alle echt georgischen Lieder ist dies polyphon und erinnert an einen gregorianischen Choral. Ein plötzlicher, aber hartnäckiger subtropischer Regenguß weicht die Menge langsam, aber unerbittlich auf - Gott sei Dank spült er für diesen Tag auch Mutter Theresa fort -, die eigentlich der so unverwechselbar lokalen Versammlung ihre kosmopolitische Gegenwart andienen wollte.
Jetzt bleiben Gardinen ungebügelt
In diesem Land hat vor einem Jahr der Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur begonnen. Die Physikerin Dali, 51, nimmt als Delegierte ihres Instituts am Volksfrontkongreß teil. Sie wohnt mit ihrer 21jährigen Tochter zusammen. Ihren Alltag in den letzten Monaten erkennt sie nicht wieder: „Wir haben keine Lust mehr, Mittagessen zu kochen oder auf den Basar zu gehen, weil wir ja in der Zeit etwas Wichtiges versäumen könnten. Jetzt gibt es 'kaltes Buffet‘, und die Gardinen bleiben ungebügelt. In die politische Arbeit bin ich aber nur ganz allmählich hineingerutscht. Ich erinnere mich noch an ein spontanes Meeting am 25.Februar: Die Polizei hatte ein paar Informelle einkassiert, und ich saß da mit Fieber und wollte eigentlich nach Hause. Aber als dann Militärs mit Knüppeln angefahren kamen, wurde mir klar: Von hier darfst du nicht weggehen! Damals standen wir dort vom Mittag bis in die Nacht, Arbeiter, Intellektuelle und überhaupt alle, alle Leute, um die Verhafteten freizubekommen.“
Mit dem Maultier
zum Meeting
Einen mächtigen Anstoß zur Rückbesinnung auf die nationalen demokratischen Traditionen gab hier im letzten Jahr die zeitlich zu kurz angesetzte Debatte über die neue UdSSR -Verfassung, die in Moskau im November verabschiedetet wurde. Die Bevölkerung erkannte, daß hier auf lange Frist eine Schicksalsweiche gestellt werden sollte. Heftige Proteste richteten sich vor allem gegen den Passus, daß ein von Republikorganen erlassenes Gesetz durch einen Unionsbeschluß null und nichtig wird.
Es kam zu ersten Souveränitätsforderungen. In kalten Novembernächten breiteten sich 1.300 Menschen zum Hungerstreik auf dem Platz vor dem Regierungsgebäude aus. Nachts leuchteten hier Kerzen, herrschte Schweigen, unterbrochen von Chorälen und Liedern. Der Lehrer Gija, 31, erinnert sich: „Was mich damals mitgerissen hat, war die neue Bereitschaft der Leute, zu handeln. Menschen aus ganz Georgien strömten nach Tbilissi - zum ersten Mal freiwillig, ohne durch eine Parteiveranstaltung gezwungen zu sein. Sie kamen mit Bussen, auf Maultieren und Eselskarren. Ja, ich weiß von einem Fall, wo auf einem kleinen Bahnhof in Swanetien der Zug nicht abgefertigt wurde, weil man die Leute nicht fahren lassen wollte. Da sind sie ausgestiegen und einfach so losmarschiert. Zur halben Strecke konnten wir ihnen Autos entgegenschicken.“
Die Statistik schlägt zurück
Die Massendemonstrationen wiederholten sich im Februar, ausgelöst durch die in der Autonomen Republik Abchasien lautgewordenen Forderungen nach Austritt aus der Sowjetrepublik Georgien. Die Gegenproteste in Tbilissi verstummten allerdings bald. Der heutige Volksfrontpräsident Notar Natadse erblickte in dem Konflikt das Werk orthodoxer abchasischer Parteikreise und erinnerte an die Bürgerkriegszeit, als die Moskauer Zentrale durch geschickt gesäten Nationalitätenzwist die kaum gehfähigen jungen Demokratien im Kaukasus zum Sturz brachte.
Er warnte: „Wann immer in Georgien Forderungen nach Autonomie und Demokratie erstarkten, gab es in Abchasien einen Aufstand - dies ist ein statistisches Gesetz!“ Es blieb die Forderung nach Unabhängigkeit, auch daß die Einverleibung Georgiens in die Sowjetunion 1921 als Annexion anerkannt werden solle. Diesmal gingen Zehntausende von Bürgern auf die Straße. Vom 4. bis 8.April kamen Produktion und Verkehr in der Stadt praktisch zum Stillstand.
Am 4.April nahmen Tausende von Studenten und Vertretern der informellen Gruppen den Hungerstreik wieder auf. Die Pianistin Lali, 38, beschwört die magisch-bedrohliche Stimmung jener Tage: „Mein Haus liegt an der Straße, die direkt zu dem Platz führt, auf dem das alles stattfand. Und da herrschte eine große Ruhe. Die jungen Leute wirkten auf mich so zärtlich. Ein paar kannte ich. Das waren doch verwöhnte Kinder, die alles hatten, Videogeräte, Autos, was sie nur wollten. Und plötzlich erwiesen sie sich zu einer solchen Selbstaufopferung fähig, zu einem solchen Aufschwung des Geistes! Der tiefe Frieden dort hat mich gezähmt. Das Bild der Kerzen in den Nächten war so schön, daß ich fühlte: Hier muß ein schrecklicher Rückschlag kommen. Ich glaube, daß dieser Schlag nur aufgrund der Gleichgültigkeit unserer Oberen erfolgen konnte, die in diesen jungen Menschen lediglich eine Masse erblickten und nicht deren innere Welt sahen.“
Ein Momentaufnahme von den Giftgas-Opfern
Film und Videoaufnahmen haben die georgische politische Bewegung von Beginn an verewigt. Sie zeigen eine singende und tanzende Menge am Abend des 8.April, die dann um vier Uhr nachts in Schweigen verfällt, um den nahenden Panzern eine breite Gasse zu gewähren. Sie zeigen die Schußwunden der Opfer, die darauf hindeuten, daß keineswegs aus der Ferne geschossen wurde, sondern aus der Nähe, sogar direkt in die Schläfe.
Sie zeigen Hunderte von Giftgasopfern, die schlimmsten Fälle, die noch monatelang in den Krankenhäusern lagen, mit Lungenödemen und Nervenlähmungen, toten Augäpfeln unter lebendigen Lidern. Wie so viele, so hat diese Nacht auch den 29jährigen Architekten Irakli endgültig politisiert: „Da wurden Menschen zu Maschinen. Die Soldaten, die auf uns eindroschen, sahen furchterregend aus. Sie hatten dick eingeschmierte Gesichter und Wattebäusche zwischen den Zähnen - wahrscheinlich mit einer Schutzsubstanz gegen das Nervengas. Daß viele davon schwer unter Alkohol standen, ist bekannt, aber ich persönlich glaube, da waren noch andere Drogen im Spiel. Sie handelten wie Roboter, verfolgten von Anfang an die Flüchtenden! Als ich am Boden lag, wand ich mich wie ein Breaktänzer, um den Schlägen auszuweichen. Aber schließlich - ich hatte schon zwei Rippen gebrochen - kam das Gefühl: Jetzt ist sowieso alles aus! Ich erhob mich also und ging auf sie zu. Sofort wichen sie zurück und ließen mich durch. Als der nächste Trupp auf mich losstürzte, gab ich ihnen einfach den Befehl: 'Halt, beiseite treten!‘ Und siehe da, sie befolgten das Kommando.“
Gast als Gewinn oder Last?
Der ehemalige georgische Parteichef Patiaschwili - ein Operettenstatthalter - bat seit dem November-Hungerstreik Moskau mehrmals vergeblich um die Proklamation der Ausgangssperre, die schließlich am 9.April erklärt wurde. Patiaschwilis Nachfolger Gumbaridse ist zwar ein Mann mit mehr Statur - aber mit noch schlechteren Ausgangsbedingungen.
Daß die Volksfront die einzige politische Kraft mit Autorität in der Bevölkerung ist, zeigte sich erneut wenige Tage nach ihrer Gründung Ende Juni in den Bezirken Marneuli und Bolnisi. Da erklärten plötzlich aserbaidschanische Siedler ihre Autonomie, die in den letzten zehn bis 25 Jahren auf rätselhafte Weise Staatsland als Privatland erwarben. Gemeinsam mit der georgischen Polizei dämpften 200 Volksfront-Ordner den Konflikt mit der Losung: „Wir gehen auf nationale Provokationen nicht ein!“
Der Gedanke, daß nationale Zwietracht ihrem historischen Erbe zutiefst fremd ist, gehört zum Allgemeingut der georgischen Intellektuellen. Die Schauspielerin Isa - mit etwa 50 Jahren ein richtiges Nationalsymbol - verbreitet sich zu diesem Punkt in ihrem Heim bei jenen schweren Süßspeisen, die der Fluch aller südlichen Völker sind: „Ich bin in so einem richtigen Tblissier Altstadthaus aufgewachsen. Da ging eine große Holzgalerie um den ganzen Innenhof. Darauf tummelten sich außer unserer georgischen Familie auch noch Deutsche, zwei russische Familien, die verschiedenen altgläubigen Sekten angehörten, Krimtataren und Kasantataren, Assyrer, Juden, Armenier, Kurden und Griechen. Und es war nicht so, wie heute, daß die Türen verschlossen wurden, wenn man fortging. Abends drangen die Gerüche der verschiedenen Nationalgerichte aus den Küchen, und die Hausfrauen gingen mit Probiertellerchen herum: „Na, wie ist mir das gelungen?“ Ich meine, jeder soll das Recht haben, in unserem Land zu leben, solange er sich wie ein Gast benimmt. Unsere Juden leben schon seit 2.500 Jahren hier. Im 16.Jahrhundert, als in ganz Europa die Synagogen brannten, wurde hier in Tbilissi als Zeichen des Protestes unsere Synagoge gebaut.“
Der geogische Konflikt steht auf Messers Schneide
Der Komponist Artur, 26, Mitorganisator der armenischen Sektion in der georgischen Volksfront, sieht den Begriff des „Gastes“ weniger arglos. Er fürchtet, daß mit dieser Kennzeichnung die Bürgerrechte der Minderheiten in Tbilissi beschnitten werden sollen: „Ich war selbst in Afghanistan und habe auf unschuldige Leute geschossen. Nachdem ich von dort zurückgekehrt war, begriff ich, daß dies eine schreckliche Politik war, die niemandem nützte. Und nach den Ereignissen in Tbilissi der Monate November, Februar und April habe ich dann beschlossen, erstmal meine ganze Kraft in politische Arbeit zu stecken. Ebenso wie die Russen, die auch eine eigene Sektion in der georgischen Volksfront planen wie Juden und Kurden, können wir Armenier uns als Mitbürger über die Georgier weiß Gott nicht beklagen. Es geht ja schließlich darum, daß wir, die wir in diesem Land leben, gemeinsam lernen, seine Reichtümer zu nutzen und uns unsere demokratischen Rechte nehmen.“
Die hier beschworene Solidarität kann schnell hinfällig werden, wenn angesichts des neuen georgisch-abchasischen Konfliktes extremistische Gruppen in die Volksfront hineinwirken, wie sie sich im „Komitee zur Rettung Georgiens“ zusammengeschlossen haben, unter Führung des international bekannten Exdissidenten und Nationalschriftstellersohnes Swijad Gamsachurdija, wie zahlreiche provinzpatriotische Gruppen, die am liebsten sofort aus dem Verband der UdSSR ausscheiden und die nationalen Minderheiten in Georgien als Bürger ohne Wahlrecht betrachten möchten.
Wer immer den abchasischen Konflikt schürt, muß daran ein Interesse haben. Die Losung „Georgien den Georgiern“ ist im Hochsommer noch nicht in das Haus der Filmschaffenden gedrungen, aber auf der Straße davor war sie schon zu lesen
-es ist dies wohl die gefährlichste Losung in einer Anderthalbmillionenstadt, von deren Bewohnern - um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen - 14 Prozent Armenier sind, elf Prozent Russen und acht Prozent Aserbaidschaner - in einem Land, das die alten Römer den „Berg der Sprachen“ nannten. Das Haus wird so bald nicht zur Ruhe kommen - das Kino findet weiterhin auf der Piazza statt.
Teil I der Serie „Risse im roten Imperium - die Peripherie revoltiert“ erschien am Donnerstag, den 31.August 1989. Fortsetzung am nächsten Freitag, 15.September mit einer Reportage über Armenien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen