piwik no script img

Kein Ende des Marxismus

Francesco Alberoni, italienischer Soziologe, über die Zukunft des Realsozialismus  ■ D O K U M E N T A T I O N

Erleben wir gerade die letzte Krise des Marxismus vor seinem endgültigen Verschwinden? Fast alle sind heute dieser Auffassung, auch die Marxisten selbst. Einige von ihnen haben darum die Theorie der Postmoderne entwickelt, derzufolge der Marxismus nichts als die letzte Stufe der Idee des Fortschritts war und mit dieser überholt sein wird. Alles am Ende, gestorben, begraben.

Ich war nie Marxist. Ich bin der Auffassung, der Marxismus ist noch lange nicht am Ende. Er macht eine schwere Krise durch, aus der er als ein anderer hervorgehen wird.

Um weiter darüber sprechen zu können, was mit dem Marxismus geschehen ist und was noch mit ihm geschehen wird, müssen wir uns zuerst darüber verständigen, zu welcher soziologischen Kategorie der Marxismus gehört. Meines Erachtens ist der Marxismus eine Kulturform. Das sind, wenn wir an das Judentum, ans Christentum, Buddhismus und Islam denken, große Institutionen, die aus Bewegungen hervorgingen, die aber auch die Kraft hatten zu absorbieren und anderen Bewegungen ihre Sprache zu geben und von deren Energie zu zehren.

Im 20.Jahrhundert und vor allem mit der Dritten Internationalen gelang es dem Marxismus, fast jede Protestbewegung - ganz gleichgültig, worum es ihr ging - zu hegemonialisieren, zu führen. Seine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus spielte sich nie auf dem Gebiet der Wirtschaft ab, auf dem der Wachstumsraten, sondern immer auf der des Versprechens der Brüderlichkeit, die Gleichheit, der anthropologischen Veränderung des Menschen.

Daß er in einer Krise steckte, das wurde erst deutlich, als er in Konkurrenz zu anderen Kulturformen trat, wie der des Katholizismus in Polen oder des Islam in Afghanistan. Die Sowjetunion wird heute nicht nur vom wirtschaftlichen Zusammenbruch bedroht, sondern stärker noch von den nationalen Bewegungen.

Das Studium gesellschaftlicher Phänomene reduziert auf Wachstumsraten, finanzielle Faktoren und ökonomische Interessen verkennt die integrative Kraft des Glaubens und der Ideale. Wenn die großen universalen Ideale ausfallen, so treten an ihre Stelle lokale, ethnische.

Fragen wir uns jetzt: Was wird in der UdSSR, in China, Südostasien passieren? Wird die Marktwirtschaft triumphierend Einzug halten wie in Südkorea, Taiwan und Singapur? Werden Freiheitsstatue und die amerikanische Flagge an die Stelle von Hammer und Sichel treten? Schwierig, fast unmöglich ist das. Es würde zu einem Heer von Hunderten von Millionen Arbeitslosen führen, die einzelnen Provinzen würden selbständig, das chinesische Reich würde zusammenbrechen. Während der letzten Stunden der Tienanmen-Bewegung, als von Konflikten in der chinesischen Armee die Rede war, sahen alle westlichen Beobachter das Gespenst der Kriegsherren wieder. Es war Maos Marxismus, der das chinesische Reich wieder geeint hatte nach einem Jahrhundert der Bürgerkriege. Es war Lenins Marxismus, der an die Stelle des orthodoxen Christentums getreten war und das russische Reich am Leben hielt.

Der Markt allein hält nich zusammen. Die Politologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler vor allem in den USA irren sich, wenn sie meinen, Interessen, Verträge hielten eine Gesellschaft zusammen. Nein. Auch die USA gibt es nur, weil es über die Wirtschaft hinaus eine amerikanische Nation gibt und den Glauben an ihre Mission. Japan existiert dank des unglaublichen Nationalstolzes dieses Volkes, der die Welt in die Schranken forderte.

Der wahrscheinlichste Erbe des Marxismus bleibt in diesen Ländern also der Marxismus. Nach Veränderungen, theoretischen und organisatorischen Anpassungen. Ein Marxismus, der den Markt mit in sich aufnimmt, ihn führt. Sicher, der alte sowjetische Marxismus, das alte Führungsmodell ist tot. Aber Kulturformen zeichnen sich gerade durch ihre Fähigkeit zur Veränderung, Anpassung an neue Situationen aus.

Wir befinden uns erst in den allerersten Momenten dieses Veränderungsprozesses. Bilden wir uns nicht ein, das Ende zu sehen, wo wir erst am Anfang stehen.

Aus 'Corriere della sera'

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen