: Ein Massaker, das es nie gab
■ Der Bromberger Blutsonntag vom 3.September 1939 oder wie Historiker auch heute noch NS-Propaganda nachbeten
Als am Morgen des 1.September 1939 die ersten Wehrmachtsverbände die Grenze zu Polen überschritten, ahnte in Polen niemand, was dem Land bevorstehen würde. Fünf Jahre später sollte die nationalsozialistische Herrschaft in Polen ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung ausgerottet haben, darunter zu einem Großteil gezielt die Intelligenz. Der geringste Teil davon - etwa 66.000 polnische Soldaten - fiel im Zusammenhang mit den recht kurzen Kampfhandlungen im September 1939. Alle anderen wurden Opfer von Geiselerschießungen, Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie Deportationen.
Dennoch schrieben bundesdeutsche Historiker in der Nachkriegszeit, Deutsche die ersten zivilen Opfer des Zweiten Weltkrieges gewesen: die Volksdeutschen in Polen. So schreibt der Historiker Jörg Hönsch in seiner „Geschichte Polens“ noch 1983 von „in einer Atmosphäre von Haß und Angst begangenen polnischen Ausschreitungen gegen Angehörige der deutschen Minderheit, bei denen der Bromberger Blutsonntag am 3.September trauriger Höhepunkt war und denen insgesamt 5.437 Menschen zum Opfer fielen“. Die wütenden, deutschfeindlichen und rachsüchtigen Polen hätten sich in jenen Tagen auf die unbewaffnete und schutzlose deutsche Minderheit gestürzt und zahlreiche Volksdeutsche gelyncht, so der Tenor fast der gesamten bundesdeutschen Nachkriegshistoriographie. Bromberg, heute Bydgoszcz, wurde zum Symbol dafür.
Schon die Zahl von 5.437 Toten aber entstammt der ersten Ausgabe der Propagandabroschüre „Die polnischen Greueltaten an den Volksdeutschen in Polen“, die unter NS-Propaganda -Chef Goebbels Ägide herausgegeben wurde und vor allem zum Ziel hatte, die deutschen Verbrechen in Polen zu relativieren. Da sich selbst diese Zahl im Vergleich zu dem, was deutsche Gründlichkeit in Polen innerhalb von fünf Jahren anzurichten imstande war, noch recht harmlos ausnahm, wurde die offizielle Zahl „ermordeter Volksdeutscher“ nachträglich auf das Zehnfache erhöht: Bald war von 50.000 in der NS-Propaganda, am Ende gar von 62.000 Opfern die Rede. Wie unhaltbar solche Zahlen im Bezug auf Bromberg waren, zeigt ein Blick auf die Bevölkerungsstatistik dieser Stadt: 1939 hatte Bromberg 143.237 Einwohner, davon waren gerade 9.208 Deutsche.
Die bundesdeutsche Geschichtsschreibung hat das Märchen von den 50.000 toten Bromberger Deutschen denn auch nie übernommen, wohl aber einige andere Legenden, die unmittelbar auf Goebbels Propaganda zurückzuführen sind. Der Historiker Peter Aurich schrieb 1969 von „mehreren Tausend Toten in Bromberg“, blieb den Quellenhinweis allerdings schuldig. Das Bild, das er von den Ereignissen an jenem Sonntag im September malte, war dafür umso blutiger: „Wie wenig die aufgepuschten, zum Teil betrunkenen, nur noch vom Drang nach Rache und Vergeltung besessenen Menschenjäger in den Straßen Brombergs in der Lage waren, einen klaren Gedanken zu fassen, wie sehr sie sich in einen regelrechten Blutrausch hineinsteigerten, beweist der Umstand, daß vielfach nicht einmal mehr zwischen Freund und Feind unterschieden wurde.“ Zwischen Propaganda und Wahrheit auch nicht.
Was geschah wirklich am 3.September 1939 in Bromberg?
Die erste Bombe forderte 18 Tote
Rajmund Kuczma lebt heute noch in Bydgoszcz, als Historiker und „Museumsdirektor a.D.“. In jenen Septembertagen 1939 war er zehn Jahre alt, sein Vater ein Schneidermeister. „Wir hatten viele deutsche Kunden“, berichtet Kuczma. Bis kurz vor Kriegsausbruch sei das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen korrekt gewesen, doch unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Propaganda, der zunehmenden Kriegsgefahr und der allgemeinen Unsicherheit sei es immer angespannter geworden. Ab März, als die Deutschen begonnen hätten, einander mit erhobenem Arm zu grüßen und die polnische Polizei die Entfernung deutscher Werbung aus den Schaufenstern verlangt habe, seien auch zu Schneider Kuczma immer weniger Kunden gekommen. Es wurde die Parole ausgegeben, „ein ordentlicher Deutscher kauft nicht bei Polen“. Am 31.August verkündeten die Zeitungen die polnische Mobilmachung. Am nächsten Morgen war Krieg. „Schon am Freitag abend tauchten die ersten Flüchtlingstrecks in Bydgoszcz auf“, erinnert sich Kuczma. Auf Pferdefuhrwerke hatten sie ihre Möbel aufgeladen. Ihren ganzen Besitz lagerten sie in der Innenstadt. Die erste Bombe fiel mitten auf den Kasernenhof der Garnison und forderte 18 Menschenleben. Am Samstag blieb alles ruhig, abgesehen davon, daß immer mehr Flüchtlinge die Innenstadt verstopften. Am Sonntag verbreiten sich in der Bevölkerung die ersten Gerüchte über die bevorstehende Besetzung Bydgoszczs durch die näherrückende Wehrmacht. Als Rajmund Kuczma am Sonntag vormittag mit seinem Vater die Kirche des Heiligen Martin und Nikolaus in der Innenstadt verläßt, wird die Menge der Gläubigen von unbekannten Heckenschützen unter Beschuß genommen. „Auch in der nahegelegenen Jesuitenstraße wurden Gewehrschüsse abgegeben. Es brach natürlich sofort Panik in der Menge aus. Als wir zu unserem Haus auf dem Neuen Markt gelangten“, berichtet Kuczma weiter, „wurde auch aus dem Speicherfenster des Hauses Nr.1 geschossen. Dort wohnte ein pensionierter preußischer Polizist.“ Die Deutschen in Bydgoszcz hätten geglaubt, die Einnahme der Stadt durch die deutsche Wehrmacht stünde unmittelbar bevor und hätten mit der Schießerei Aufruhr und Panik hervorrufen wollen, um den einrückenden Truppen die Arbeit zu erleichtern, urteilt Kuczma im Nachhinein.
Der Bromberger Historiker Wlodzimierz Jastrzebski, der den Verlauf der Schießerei am 3. und 4.September genauestens untersuchte, schriebt: „Die polnische Seite war in solchen Fällen häufig gezwungen, den Grundsatz kollektiver Verantwortlichkeit anzuwenden, das heißt im Falle von Schüssen aus einem bestimmten Haus alle Bewohner desselben herauszuholen und unter ihnen alle Deutschen zu identifizieren sowie unter diesen dann die Heckenschützen und ihre Helfer ausfindig zu machen.“ Die Heckenschützen wurden zumeist erschossen, teilweise aufgrund von Urteilen der Standgerichte, häufig allerdings auch ohne solche Urteile, da die polnische Verwaltung zu spät erst mit der Einberufung von Standgerichten begonnen habe, kritisiert Jastrzebski. Die Aktionen der Heckenschützen hätten jedoch bald ein Ausmaß angenommen, von dem die polnischen Behörden überrascht worden seien.
In der Propaganda des Dritten Reiches wurde stets bestritten, daß deutsche Heckenschützen die polnische Bevölkerung von Bydgoszcz oder Einheiten der auf dem Rückzug befindlichen polnischen Armee beschossen hätten. Jene Schießereien, deren Existenz aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen nicht bestritten werden konnte, seien durch Verwechslungen zustandegekommen: Einzelne versprengte polnische Einheiten hätten sich gegenseitig für Wehrmachtstrupps gehalten und aufeinander geschossen. Jastrzebski bezweifelt nicht, daß es solche Vorkommnisse gab, tatsächlich kam es zu einem kurzen, folgenlosen Schußwechsel zwischen zwei polnischen Einheiten am Morgen des 3.September. Daß jedoch deutsche Heckenschützen zum Teil von den Türmen evangelischer Kirchen in Bydgoszcz aus um sich schossen, daß der Ablenkungsangriff von langer Hand geplant war, ist ebenso erwiesen, auch wenn es von den meisten bundesdeutschen Historikern nach dem Krieg geleugnet wurde.
Zbyszko Lonatowski, der heute ebenfalls noch in Bydgoszcz als Rentner lebt, war damals als Pfadfinder bei der Fliegerabwehr: „Am Nachmittag des 3.September wurde eine Batterie der Fliegerabwehr aus einem von der deutschen Familie Beck bewohnten Haus in unserer Straße beschossen.“ Lonatowski kannte seine Nachbarn, er wußte auch, daß deren Sohn eine Zeitlang in Danzig gewesen war und erst kurz vor Kriegsausbruch zurück nach Bydgoszcz gekommen war. „Soldaten der polnischen Armee baten uns um Hilfe bei der Erkundung des Terrains und bei der Suche nach den Urhebern des Angriffes.“ Bei der ersten Durchsuchung des Beckschen Hauses wurde nichts gefunden, erst bei der zweiten Revision, nachdem erneut geschossen worden war, wurden in einem Kellerverschlag drei junge Männer, darunter der junge Beck, entdeckt und abgeführt. Lonatowski: „Wir sahen nur bei der Durchsuchung zu und beobachteten, wie die drei abgeführt wurden. Später erfuhr ich, daß der junge Beck erschossen worden war. Den Eltern ist nichts geschehen.“ Lonatowski nahm noch an zwei weiteren Durchsuchungen teil, in einem Fall wurde ein Heckenschütze nicht einmal festgenommen, sondern nur verwarnt, erzählt er.
Bundesdeutsche
Geschichtsschreibung
berücksichtigt polnische
Quellen nicht
Bis heute bezweifeln bundesdeutsche Historiker die Existenz deutscher Heckenschützen ebenso wie die polnische Version von einer „fünften Kolonne“, von vorausgeplanter Diversion, Ablenkungsangriff von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen. Meist ist in den Monographien bundesdeutscher Historiker nur von „angeblicher Diversion“ die Rede. Zahlreiche von polnischen Historikern nach dem Krieg gesammelte Zeugenaussagen weisen jedoch darauf hin, daß die Aktionen geplant waren. Nicht nur, weil die Schwerpunkte der Schießereien fast ausnahmslos entlang dem Rückzugsweg der polnischen Armee lagen, sondern mehr noch der Ausrüstung der Heckenschützen wegen. Lonatowski: „Als die drei jungen Männer bei der zweiten Durchsuchung bei Becks gefunden wurden, waren sie mit einem Maschinengewehr, Pistolen und Handgranaten bewaffnet.“ Selbst in der gespannten Zeit vor dem Kriegsausbruch gehörten solche Gegenstände kaum zum Hausrat einer gutbürgerlichen Familie.
Doch in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung wurden die polnischen Quellensammlungen kaum berücksichtigt, den Aussagen von in der Endphase des Krieges vertriebenen Volksdeutschen aus Bromberg dagegen schenkte man vollen Glauben. Peter Aurich betitelt denn das Kapitel über die Schießereien am 3.September 1939 in seinem Buch mit: „Kirchturmlegenden“. Sein Kronzeuge für die Nichtexistenz der volksdeutschen Diversion ist dabei Marian Hepke, ein in dieser Hinsicht nicht unumstrittener Zeitzeuge. Hepke war vor dem Krieg Redakteur der 'Deutschen Rundschau in Polen‘. Nach der Besetzung Bydgoszczs durch die Wehrmacht änderte sich auch der Titel des Blattes in 'Deutsche Rundschau‘, denn nach nationalsozialistischer Auffassung gab es Polen ja nicht mehr. Obwohl er es besser wissen mußte, veröffentlichte Hepke in der Folgezeit sämtliche von Goebbels angewiesenen Greuelmärchen über das „Märtyrium der Volksdeutschen in Bromberg“, einschließlich der Phantasiezahl von über 50.000 Opfern. Hepke blieb sich auch nach dem Krieg treu. Er behauptete steif und fest, von Schießereien in Bromberg nichts gehört zu haben, obwohl noch lebende Augenzeugen in Bydgoszcz den Redakteur beobachtet haben, wie er bei einer solchen Schießerei in einem Hauseingang Deckung suchte.
Bei der Darstellung der Ereignisse vom September 1939 in Bydgoszcz stützen sich die bundesdeutschen Darstellungen häufig auf Aussagen, die bei einer Fragebogenaktion des Bundesarchivs Koblenz nach dem Krieg unter Vertriebenen gesammelt wurden. Demnach wurden in ganz Polen vor der vollständigen Besetzung durch die Wehrmacht 3.841 Volksdeutsche von Polen ermordet, davon 2.063 in ihren Heimatorten, 1.576 bei sogenannten „Verschleppungsmärschen“, den Deportationen ins Landesinnere. Zwangsläufig läßt sich dabei aber kaum die Zahl der Opfer unmittelbarer Gewaltanwendung von polnischer Seite von der Zahl der Opfer trennen, die beispielsweise bei solchen Märschen infolge deutscher Bombenangriffe auf Flüchtlingstrecks umkamen.
Allerdings belegen die nach dem Krieg im Bundesarchiv gesammelten Aussagen in vielen Fällen auch die Mißhandlung und Erschießung von Volksdeutschen in Bromberg. Seltener dagegen werden in den Fragebögen die Gründe für die Erschießungen angegeben. Schließlich ist es schon ein Unterschied, ob jemand, wie die Berichte meist suggerieren, „vom polnischen Mob gelyncht“ oder wegen Heckenschüssen standrechtlich erschossen wurde. Hinzu kommt, daß viele Volksdeutsche anschließend vor deutschen Sondergerichten polnische Mitbürger der Mißhandlung Volksdeutscher bezichtigten und diese dann oft ohne die geringsten Beweise zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Auf diese Weise an den Unrechtsurteilen der Bromberger Sondergerichte mitschuldig geworden, war es da nur logisch, daß viele Volksdeutsche später als Vertriebene in der Bundesrepublik bei ihren Aussagen blieben. Tatsächlich decken sich denn auch manche Aussagen, die im Rahmen der Fragebogenaktion des Bundesarchivs gemacht wurden, fast wörtlich mit den Aussagen der Betreffenden vor den Sondergerichten. Das soll nicht heißen, daß es zu keinerlei Übergriffen von polnischer Seite gekommen wäre. Vergewaltigungen, von denen beispielsweise die Opfer in den Akten des Bundesarchivs berichten, sind auch durch vorangegangene Heckenschützenaktionen nicht zu entschuldigen.
Von Dächern und Kirchtürmen
wurde geschossen
Angesichts der Diskrepanz zwischen polnischen und deutschen Zeugenaussagen kommt Beobachtungen Dritter - etwa unbeteiligter Ausländer - besonderes Gewicht zu. Im Archiv der „Hauptkommission zur Untersuchung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Warschau befindet sich die Aussage des kroatischen Arztes Dr.A. Fucic, der im September 1939 bei der Bromberger Sozialversicherung beschäftigt war, gab der römischen Zeitung das Interview anonym, doch gelang es dem polnischen Konsulat in Zagreb, den Namen des Zeugen herauszufinden und die Geschichte der polnischen Exilregierung in London weiterzumelden.
„Gegen elf Uhr morgens“, berichtete Fucic, „begann die Schießerei von den Dächern privater Häuser, von den Türmen evangelischer Kirchen und vom Turm der Jesuitenkirche auf dem Alten Markt sowie aus dem evangelischen Friedhof an der Jagiellonenstraße auf die Zivilbevölkerung und das zurückgebliebene Militär. Auf dem Turm der evangelischen Kirche am Freiheitsplatz, der die Danziger Straße beherrscht, war ein Maschinengewehr angebracht.“ Insgesamt zählt Fucic fünf Punkte auf, von denen aus geschossen wurde, davon vier Kirchen und ein Warenhaus. „Wie Deutsche, die am Sonntag nachmittag und am Montag gefaßt wurden, zugaben, hatten sie angenommen, die Wehrmacht würde am Sonntag nachmittag die Stadt einnehmen. Mit der zuvor geplanten Schießerei sollte Aufruhr verbreitet werden, um das Militär zu desorganisieren und unter der Zivilbevölkerung Panik zu erzeugen“, so Fucic weiter. Wer von den Deutschen nicht bei der Umzingelung und den Schußwechseln mit der polnischen Armee, die in die Stadt zurückkam, erschossen wurde, den stellte man vor ein Kriegsgericht, um ihn anschließend hinzurichten. „Nicht die Polen verübten Pogrome an den Deutschen, denn die polnische Zivilbevölkerung besaß gar keine Waffen, sondern die örtlichen Deutschen, die Waffen zur Verfügung hatten, organisierten Feuerüberfälle auf polnisches Militär“, schließt Fucic, „und daß die Polen sich an den mit der Waffe in der Hand getöteten Deutschen und den aufgrund eines Kriegsgerichts hingerichteten Deutschen keinerlei Grausamkeiten zuschulden kommen ließen, davon zeugt die Bemerkung einer deutschen Ärztin, die Leichen der Deutschen untersuchte und außer natürlichen Veränderungen keinerlei Folterspuren feststellte.“
Dies gilt zumindest für Sonntag, den 3.September. Anders dagegen sieht auch Wlodzimierz Jastrzebski die Lage am darauffolgenden Tag. Bereits am Sonntag abend hatte das polnische Militär die Schießereien in der Stadt weitgehend zum Erliegen gebraucht, auch gegen Morgen herrschte nach Augenzeugenberichten Ruhe in der Stadt. Dennoch wurde am Montag eine freiwillige Bürgerwehr aufgestellt, mit der Hauptaufgabe: „Bekämpfung der Diversion“. Jastrzebski: „Auf die Frage, ob diese Aufgabenstellung angesichts der Lage gerechtfertigt war, gibt es keine eindeutige Antwort.“ Er schließe nicht aus, daß der Montag der Tag der Rache für die Vorfälle vom Sonntag geworden sein könnte. Im Stadtteil Szwederowo brannte polnisches Militär etwa die evangelische Kirche nieder. Polnische Zeugen behaupten, man habe den Heckenschützen dort nicht anders beikommen können. Deutsche behaupten, die Kirche sei grundlos niedergebrannt worden.
Dreimal mehr Tote als
deutsche Einwohner
Mit der deutschen Wehrmacht, die am nächsten Tag Bromberg besetzte, kamen auch die Juristen der Wehrmachtsuntersuchungsstelle für alliierte Kriegsverbrechen, die am 4.September ins Leben gerufen worden war. Vom 9. bis 13.September verhörten sie insgesamt 54 volksdeutsche Zeugen, die von den polnischen Übergriffen gegen die deutsche Minderheit berichteten. Jeder Zeuge, so berichteten die Militärrichter nach dem Krieg, habe von zwei bis drei Todesfällen berichtet. Berücksichtigt man die Möglichkeit, daß einige Zeugen dabei die gleichen Fälle erwähnt haben können, so muß die Zahl der getöteten Volksdeutschen, die die Wehrmachtsuntersuchungsstelle schließlich ermittelt haben kann, um die Einhundert betragen haben. Im deutschen Propagandaministerium interessierte man sich jedoch für die Ergebnisse der Erhebungen nicht.
Noch bevor die Kommission mit der Arbeit begonnen hatte, verbreitete das 'Deutsche Nachrichtenbüro‘ (dnb) am 7. und 8.September sein erstes Bulletin über die Vorfälle des Wochenendes. Überschrift: Bromberg, Stadt des Grauens“. Mit der Schuldzuweisung hatte Goebbels Ministerium offenbar noch seine liebe Mühe. Denn in den aufeinanderfolgenden Mitteilungen des 'dnb‘ werden nacheinander das polnische Militär, polnische Nationalisten und der britische Geheimdienst für die angeblichen Untaten verantwortlich gemacht. Auch die Zahl der Opfer unterlag ständigen Korrekturen: am 8.September wurde die Zahl von 140 Toten verbreitet, in einem späteren Bulletin des gleichen Tages waren es schon 1.000. Zu Jahresende 1939 hatte man sie bereits auf 5.437 erhöht, noch im Februar 1940 waren es dann schon 58.000, das heißt sechsmal soviele Ermordete als in Bydgoszcz vor dem Krieg überhaupt Deutsche gelebt hatten.
Bis dahin waren im Rahmen der von Goebbels entfesselten antipolnischen Pressekampagne allein in der landesweiten Presse bereits 30 große Berichte über die „bestialischen Verbrechen der Polen an den schutzlosen Volksdeutschen“ erschienen. Ziel der Propagandakampagne war es, die Stimmung im deutschen Reich anzuheizen und die deutschen Verbrechen in Polen als „Vergeltung für Bromberg“ zu rechtfertigen.
Viele deutsche Soldaten glaubten noch nach dem Krieg an die Greuelmärchen über Bromberg, und nicht nur sie. Auch bundesdeutsche Historiker konnten sich der überzeugungskraft der Goebbelschen Propaganda selbst dann nicht entziehen, als das Dritte Reich längst untergegangen war und sich ihre polnischen Kollegen längst daran gemacht hatten, die Ereignisse in Bromberg detailliert zu untersuchen. Bis in Veröffentlichungen der achtziger Jahre hinein zieht sich in der bundesdeutschen Literatur jedoch die Legende vom „Bromberger Blutsonntag“, dem - je nach Autor - mal eintausend, mal mehrere Tausend Volksdeutsche zum Opfer gefallen sein sollen. Gemeinsam ist diesen Behauptungen vor allem eines: daß sie zumeist nicht belegt werden.
Tote Deutsche herangeschafft
Wie sollten sie auch, selbst Goebbels Propagandamaschinerie war dazu nicht in der Lage. Nach der Besetzung Brombergs tat die deutsche Besatzungsmacht alles, um den im Vornhinein verbreiteten Märchen Glaubwürdigkeit zu verschaffen. In Bromberg wurde eine „Liste ermordeter Volksdeutscher“ geführt, in der alle Daten aufgeführt waren, über die auf einem speziell angelegten Heldenfriedhof - genannt „Ehrenheim“ - begrabenen Volksdeutschen, die angeblich ermordet worden waren. Genaue Untersuchungen nach dem Krieg brachten ans Tageslicht, daß von den 618 Toten nur 238 mit Sicherheit Bromberger Deutsche gewesen waren, deren Todesursache noch dazu nicht angegeben war. Der Rest war von außerhalb Brombergs herangeschafft worden, in zahlreichen Fällen war nicht einmal sicher, daß es sich überhaupt um Deutsche handelte.
In Posen befaßte sich die „Gräberzentrale der ermordeten Volksdeutschen“ mit dem Nachweis polnischer Verbrechen. Sie kam im Februar 1940 in einem detaillierten Rapport zu dem Schluß, dem „Bromberger Blutsonntag“ seien gerade 379 Deutsche zum Opfer gefallen. In der nationalsozialistischen Propaganda tauchten diese Zahlen ebenso wenig auf wie in den meisten Arbeiten bundesdeutscher Historiker zu diesem Thema. Völlig unbekannt scheint hierzulande auch eine Entdeckung zu sein, die der Bromberger Historiker Edmund Zarzycki im Staatsarchiv Bydgoszcz in den Akten des Sondergerichtes machte und 1976 veröffentlichte.
Es handelt sich um den Bericht von Bernhard Wehner, Obersturmbannführer der SS und als Kriminalkommissar Vorsitzender einer Spezialkommission des Hauptamtes der Kriminalpolizei des Deutschen Reiches. Die Spezialkommission wurde extra zur Untersuchung des „Bromberger Blutsonntags“ zusammengestellt und ermittelte bis zum 3.Dezember 1939. In dem Rapport kommt Wehner zu dem Ergebnis, daß den Vorfällen des „Bromberger Blutsonntags“ insgesamt 103 Volksdeutsche zum Opfer gefallen waren.
Auch wenn der sogenannte „Bromberger Blutsonntag“, der noch heute als Symbol polnischer Verbrechen an der deutschen Minderheit gilt, damit auf das Ausmaß einzelner, noch dazu von deutschen Heckenschützen provozierter Ausschreitungen zusammengeschrumpft ist, seinen Zweck erfüllte diese Greuelpropaganda allemal. Nicht wenige waren unter ihrem Eindruck gerne bereit, ihr Gewissen angesichts der deutschen Greueltaten in Polen mit dem Hinweis auf die „Septembermorde“ zu beruhigen, und sah die Notwendigkeit einer „rücksichtslosen Bestrafung des polnischen Volkes“, wie sie Hitler forderte, ein. Auch auf die Moral der in Polen einrückenden Truppen blieb das nicht ohne Folgen. Als am 5.September die deutsche Wehrmacht in Bromberg einrückte, ging sie mit Freude an die Arbeit. Jastrzebski: „Vom 6. bis 11.September pazifizierte die deutsche Armee die Stadt. Bei wem eine Waffe gefunden wurde, der wurde sofort erschossen, Verdächtige wurden in Lager ausgewiesen.“ Diese Vorführung wiederum deuteten jene Polen heraus, die bei der Niederschlagung der Diversion in irgendeiner Weise beteiligt gewesen waren.
Deutsche Sondergerichte
für Bromberger Bürger
Die so Identifizierten wurden vor das Bromberger Sondergericht gestellt und fast ausnahmslos zu Tode verurteilt und hingerichtet. Schließlich nahm die Wehrmacht die angebliche Verwundung eines deutschen Soldaten zum Anlaß, vom 9. bis 11.September 1939 insgesamt 40 Geiseln nach und nach auf dem Marktplatz zu erschießen. Wohlgemerkt: nicht ein Sondereinsatzkommando, nicht SS oder Gestapo, sondern die deutsche Wehrmacht. Die erste Geiselerschießung gab Generalmajor Braeme, „Kommandeur des rückwärtigen Armee -Gebiets und Inhaber der vollziehenden Gewalt in Bromberg“, persönlich am 10.September in einem Aushang bekannt. Laut Rajmund Kuczma wurde er nie dafür zur Verantwortung gezogen. Jastrzebski: „Allein bis Jahresende 1939 wurden von den deutschen Besatzern in Bromberg 1.600 Menschen umgebracht, die Umgegend der Stadt hinzugerechnet, waren es sogar 4.000.“ Deportationen in Vernichtungs- und Konzentrationslager sind dabei nicht mitgerechnet.
440 Menschenleben kostete indessen jene spezielle Art deutscher Rechtsprechung, die das Sondergericht Bromberg gegenüber Polen anwandte, die von ihren deutschen Mitbürgern der Teilnahme an den Schießereien vom 3. und 4.September 1939 beschuldigt wurden. Als am 9.September 1939 der damalige Staatssekretär im Reichsjustizministerium Roland Freisler persönlich nach Bromberg kam, um sich über die Bildung der Sondergerichte ins Bild setzen zu lassen, wurde ihm berichtet, daß bereits Hunderte von Zivilisten wegen Waffenbesitzes und Widerstands erschossen worden waren.
Freisler erachtete die Schauprozesse der Sondergerichte weniger des trügerischen Scheins der Rechtsstaatlichkeit wegen, die sie den Hinrichtungen verliehen, für notwendig, sondern wegen des geplanten Besuchs von ausländischen Diplomaten und Journalisten, die sich vor Ort von den „polnischen Grausamkeiten“ überzeugen sollten. Unter den Festgenommenen, denen Beteiligung am „Bromberger Blutsonntag“ vorgeworfen wurde, war auch Zbyszko Lonatowski, der lediglich bei einigen Haussuchungen dabei gestanden hatte. Er wurde angeklagt wegen Mordes an sechs Volksdeutschen und zum Tode verurteilt. Nichts zeigt das Niveau damaliger deutscher Rechtsprechung besser als die Urteilsbegründung: „Da den Angeklagten (Lonatowski war mit vier Freunden zusammen angeklagt, der Autor) eine direkte Mitwirkung bei den Morden an den sechs Deutschen nicht nachgewiesen werden konnte, wurden die Angeklagten von der Anklage des gemeinschaftlichen Mordes mangels Beweisen freigesprochen, aber wegen Landfriedensbruchs zum Tode verurteilt.“
Wohl gemerkt: der „Landfriedensbruch“ war am 3.September außerhalb des deutschen Reiches begangen worden, verurteilt wurde aufgrund eines Gesetzes, das erst am 5.September in Kraft getreten war und sich nur auf das Gebiet des deutschen Reiches erstrecken konnte. Selbst nach damaligem Recht war dieses Urteil also von Anfang an nichtig. Doch die Bromberger Juristen trieben den Unfug, dem schließlich 440 Angeklagte zum Opfer fielen, auf die Spitze. Am 13.März 1940 wurde etwa die 22jährige Gisela Damska hingerichtet - der Urteilsspruch: „Wenn auch nicht erwiesen werden konnte, daß durch die Handlungsweise der Angeklagten ein Mensch zu Tode gekommen ist, so ist doch die Angeklagte Damska des gemeinschaftlichen Mordes schuldig“ ist nachzulesen im staatlichen Wojewodschaftsarchiv zu Bydgoszcz. Keiner der beteiligten Richter konnte sich damit rechtfertigen, nur Recht gesprochen zu haben. Das erwies sich allerdings auch nicht als notwendig. Edmund Zarzycki: „Trotz allem wurden die Richter und Ankläger des Sondergerichtes in Bydgoszcz nach dem Krieg nicht zur Verantwortung gezogen, im Gegenteil, einige von ihnen waren noch bis 1962 im Justizwesen der BRD beruflich aktiv.“
Zbyszko Lonatowski ist einer der ganz wenigen, die die Rechtsprechung des Sondergerichtes überlebten. Er wurde auf Intervention seines volksdeutschen Verteidigers zu acht Jahren Gefängnis begnadigt. Heute lebt er in einer Hochhaussiedlung in Bydgoszcz. Haß auf die Deutschen hegt er keinen, er fährt oft zu Freunden ins Ruhrgebiet und in die DDR. Die Mentalität der Deutschen sei heute eine ganz andere, meint er, während er mit seinem kleinen Fiat in Richtung Bahnhof brummt. Aber daß es Deutsche gegeben habe, die von all dem nichts gewußt hätten, das kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen. 1981 hat er einen Antrag auf Entschädigung gestellt, der prompt abgelehnt wurde: Voraussetzungen nicht gegeben, hieß es. Eines würde er sich wünschen, falls Kohl doch noch nach Polen komme, lächelt er, daß er vielleicht eine Art Wiedergutmachung für die Zeit im Gefängnis bekomme. Plötzlich biegt er in eine kleine Seitenstraße ein, hält vor einem umzäunten Gräberfeld aus lauter gleichen weißen Kreuzen - dem Heldenfriedhof von Bydgozcz. „Wissen Sie“, erklärt er, „hier liegt mein Zellengenosse von damals. Ich bringe ihm jedes Jahr zu seinem Todestag ein paar Blumen.“ Dann fährt er weiter in Richtung Bahnhof.
Klaus Bachmann
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