: Der unbestimmte Artikel
■ Wie die Perestroika sich in Literatur-Übersetzungen bemerkbar macht
Spektakuläres tut sich zur Zeit in der Sowjetunion auf literarischem Gebiete. Bereits erschienen beziehungsweise angekündigt sind Kafkas Schloß, Joyce' Ulysses, Huxleys 1984, Pasternaks Doktor Schiwago, Zamjatins Antiutopie Wir, Werke von Nabokov - endlich kann sich der sowjetische Leser ein eigenes Urteil bilden über Werke und Autoren, die ihm so lange vorenthalten worden sind. Und die westlichen Medien beeilen sich, jede dieser Übersetzungen als einen Beweis für die Perestroika anzukündigen.
Und doch sind diese Veröffentlichungen nur die Schlaglichter eines Prozesses, in dem sich das Wesentliche viel subtiler vollzieht und deshalb auch von den westlichen Medien kaum wahrgenommen wird. Das kann beispielsweise so eine Kleinigkeit wie der Gebrauch des unbestimmten Artikels sein.
In dem Roman Fürsorgliche Belagerung von Heinrich Böll heißt es auf der vorletzten Seite, „daß ein Sozialismus kommen muß, siegen muß“. In einem Aufsatz über Böll betonte die sowjetische Literaturwissenschaftlerin Tamara Motyleva die antibürgerliche Haltung des Autors und zitiert diesen Satz - ohne Artikel. Dafür kann man ihr formal nicht einmal am Zeug flicken, denn in der russischen Sprache gibt es keinen Artikel. Wenn jedoch in der Sowjetunion von „Sozialismus“ die Rede ist, ist selbstredend der Sozialismus gemeint, wie er dort existiert. Damit vereinnahmte Motyleva die Aussage Bölls für die eigene politische Position.
Aber natürlich gibt es im Russischen durchaus die Möglichkeit, den unbestimmten Artikel zu übersetzen, wenn er - wie in diesem Fall - in klarer Abgrenzung zum bestimmten Artikel benutzt wird. Man bedient sich dafür des Indefinitpronomens „irgendein“.
In der Übersetzung des Romans, die gerade in der Zeitschrift 'Inostrannaja literatura‘ (Ausländische Literatur) erschienen ist, taucht das Indefinitpronomen auch auf. In seiner Einleitung des Romans zitiert Michail Rudnicki ebenfalls diesen Satz, und hier ist das Pronomen sogar gesperrt gedruckt. Unter Hinweis auf Bölls Benutzung des unbestimmten Artikels warnt Rudnicki davor, aus dem Roman die Überlebtheit der bürgerlichen Gesellschaft herauszulesen. Seiner Ansicht nach wird hier deutlich, daß es eher historische und soziale Analogien als grundsätzliche Unterschiede zwischen der bürgerlichen und der derzeitigen sozialistischen Gesellschaft gibt. Das belege unter anderem auch die übereinstimmende Popularität der Werke Bölls in der Bundesrepublik und in der Sowjetunion.
Solche scheinbaren Kleinigkeiten erzählen mehr über die Perestroika als vieles, was auf den ersten Blick so großes Aufsehen erregt.
Peter Bukowski
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